taz-Schlichtungsprotokoll zu "Stuttgart 21": "Härr Geißler Härr Doktr Geißler"
Die Argumentationen in der "Stuttgart 21"-Schlichtung werden immer absurder. Unser Autor hat die besten Sätze zusammengefasst. Ein Drama in drei Akten.
Härr Dokt'r Geißler schlichtet: Die vierte Sitzung der Schlichtung, die am vergangenen Freitag stattfand. Es handelt sich um Originalzitate.
Ort: Stuttgarter Rathaus. Sitzungsaal. Befürworter und Gegner des Bahn- und Infrastrukturprojekts Stuttgart 21 sitzen an einem Tisch.
Mitwirkende: Härr Dokt'r Heiner Geißler (CDU/Attac): Schlichter. Frau Minischterin Tanja Gönner (CDU): Anführerin der S-21-Verteidiger. Härr Boris Palmer (Grüne): Anführer der S-21-Gegner.
Am Freitag wird wieder ab 10 Uhr geschlichtet: live auf SWR3, Phoenix – und im Livestream auf fluegel.tv.
1. Akt
Härr Dokt'r Geißler (nuschelig): "Wir müssen diesen Diskussionspunkt als Dissens abschließen, net wahr. Hier kommen wir nicht weiter."
Frau Minischterin Gönner (fuchtelt mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand).
Härr Dokt'r Geißler (mürrisch): "Bidde jetzt nicht, Frau Gönner."
Frau Minischterin Gönner (wichtig): "Härr Geißler, Härr Dokt'r Geißler …"
Härr Dokt'r Geißler (blickt angeekelt): "Bidde nicht."
Frau Minischterin Gönner (unbeeindruckt): "Lieber Härr Dokt'r Geißler, ich muss auf einem Redebeitrag beschtehen, ich säe da einen gemeinsamen Punkt, und dafür möcht eich wärben."
Härr Dokt'r Geißler (schaut skeptisch über seine Brille hinweg zu Härrn Boris Palmer): "Härr Palmer?"
Härr Palmer (beflissen): "Ich denke auch, wir sind uns hier näher, als Sie das konschtatieren, Herr Geißler. Ich will Ihnen gärn sagen, warum."
Härr Dokt'r Geißler (misstrauisch): Wie lang dauert des?"
Härr Palmer (abgebrüht): "Dreißig Sekunden."
Härr Dokt'r Geißler (immer noch misstrauisch): Aber nicht länger." Palmer setzt an, Frau Minischterin Gönner geht dazwischen. Härr Palmer (hört kurz zu und sagt dann): "Okay, vielleicht sind wir uns doch nicht einig."
Härr Dokt'r Geißler (nun entschlossen): "Hier kommen wir überhaupt nicht weiter." Wendet sich nach rechts zu der Fachkraft, die dafür zuständig ist, die Folien an die Wand zu beamen, die zur Diskussion stehen.
Härr Dokt'r Geißler (sachlich): "Folie null sieben Punkt eins." Keine Folie an der Wand.
Härr Dokt'r Geißler (militärisch): "Die Fooooolie, bidde." Folie null sieben Punkt eins erscheint. Härr Dokt'r Geißler schaut irritiert. Kruschtelt in seinen Unterlagen.
Härr Dokt'r Geißler (sauer): "Jetzt werden hier wieder Folien eingebaut, die nicht allen vorher zur Verfügung gestellt wurden. Dazu gehöre ich. (Lauter) Und des geht nicht. Non liquet."
Frau Minischterin Gönners Knecht (piepsig): "Die Folien wurden geschtern Morgen rumgemält. Auch an Ihr Büro, Härr Dokt'r Geißler."
Härr Dokt'r Geißler (uninteressiert): "Ach so." Streit über Folie null sieben Punkt eins bricht aus.
Härr Dokt'r Geißler (genervt): "Jetzt gehen wir doch mal von diesem Schema da weg. Des kapiert doch sowieso keiner." Streit geht weiter.
Härr Dokt'r Geißler (sehr laut): "Folie zehn. Folie zeheeeennn!"
Frau Minischterin Gönner (unvermittelt): "Des, was hier steht, isch im Endstadium für Stufenprojägde. Des isch in Ordnung. Des..."
Härr Dokt'r Geißler (ungeduldig): "Frau Gönner …"
Frau Minischterin Gönner (staatstragend): "Härr … Geißler … Härr Dokt'r Geißler, ich wärbe dafür, diesen Gedang'n jetzt auszuführen …"
Härr Dokt'r Geißler (abrupt): "Des geht nicht."
Frau Minischterin Gönner (Krankenschwesternsound): "… wir müssen uns unterhalden, Härr …"
Härr Dokt'r Geißler (barsch): "Wir müssen uns unterhalten, was überhaupt zur Debatte steht, Frau Gönner."
2. Akt
Härr Dokt'r Geißler (am Ende eines kleinen Monologs): "Will jemand etwas sagen?" (Dann blickt er durch den Sitzungssaal. Es findet sich eine Wortmeldung.)
Härr Dokt'r Geißler (seufzend): "Frau Gönner."
Frau Minischterin Gönner (unbeeindruckt): "Wir möchten ausdrücklich där Folie dreizehn widerschpräch'n. Dürfte ich, lieber Härr Geißler, dem Rächtsäxpärd'n das Wort gäben?"
Härr Dokt'r Geißler (schaut durch den Saal): "Wo isch d'r Rächtsexperte?" Rechtsexperte meldet sich und referiert. Gönner begleitet seine Worte durch Nicken, Gegner durch Kopfschütteln.
Härr Dokt'r Geißler (sieht sich bestätigt): "Wir kommen hier nicht weiter."
Frau Minischterin Gönner: "Ich wärbe dafür …"
Härr Dokt'r Geißler: "Nein. Wir kommen nicht weiter. Non liquet."
Frau Minischterin Gönner (lateinunempfindlich): "Hier wird immer mit Understellungen gearbeitet. Sie (blickt zu S-21-Gegnern) understell'n uns, wir würden Ihnen understell'n, Sie würden nicht nachdenken."
Härr Dokt'r Geißler (nachdenklich).
Frau Minischterin Gönner (schnell): "Härr … Härr … Härr Dokt'r Geißler … deshalb bin ich Härrn … Palmer sehr dankbar … für seine Wordde. Des verschtehen wir als Lob für unsere bishärige Politik."
Härr Palmer (maliziös): "Ich lobe gärn."
Frau Minischterin Gönner (kichert): "Hihi."
3. Akt
Härr Dokt'r Geißler (hält Monolog darüber, wie das war, als er damals mit der Eisenbahn zu seinem zweiten Staatsexamen nach Stuttgart runterfuhr): " … die Geißlinger Steige runter, net wahr, des war langsam, aber grade dadurch hat man viel gesehen und so die Schönheiten der Natur genießen können, net wahr."
Frau Minischterin Gönner und Härr Palmer (tun so, als hörten sie interessiert zu).
Härr Dokt'r Geißler (nun ganz in seinem Element): "Neben dem Materiellen muss halt auch das andere eine Rolle spielen. Des isch keine Verletzung der Neutralität, net wahr, ich sage es, weil es erwähnt werden muss. (Blickt über seine Brille in den Saal) Oder wollen Sie mir widersprechen, Frau Gönner?"
Frau Minischterin Gönner (postmaterialistisch): "Nei-hein."
Härr Dokt'r Geißler (wild entschlossen): "Also, die Geißlinger Steige, die machen wir nicht kaputt. Des wär ja no mol schöner."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr