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Kolumne Gott und die WeltAdorno, Lenin und das Schnabeltier

Kolumne
von Micha Brumlik

Derzeit gibt es eine Reihe von Ansätzen, die Tradition der Kritischen Theorie wieder politisch aufzunehmen. Über den „Negativen Nachmittag“ und andere Versuche.

N ur zu gut nachvollziehbar ist es, dass Menschen in Zeiten unüberschaubarer, einander überlagernder und durchdringender sozialer, politischer und ökonomischer Krisen eine Orientierung im Denken, einen archimedischen Punkt suchen, von dem aus das Geschehen verständlich und sogar veränderbar wird.

In einer Tradition des 19. Jahrhunderts hat man sich daran gewöhnt, derartige Denkanstrengungen als „radikal“ zu bezeichnen, weil sie das Ganze eben von der einen, der einzigen Wurzel erfassen wollen.

Bisweilen verbirgt sich freilich hinter dem Wunsch, „radikal“ zu denken, schlicht die Sehnsucht nach einer unbedingten, vorbehaltlosen, am besten völlig negierenden Haltung dem Ganzen gegenüber. Davon zeugt etwa das „Unsichtbare Komitee“ mit seinem kulturreaktionären Ekel vor der Massengesellschaft und dem revoluzzernden Schwadronieren vom „Kommenden Aufstand“.

imago/ Horst Galuschka
Micha Brumlik

ist Professor für Erziehungswissenschaft in Frankfurt am Main, Publizist und Autor der taz.

Schwerer zu beurteilen sind neuere Versuche, die Tradition der Kritischen Theorie politisch aufzunehmen. So bietet etwa die Hamburger Studienbibliothek im Rahmen eines „Negativen Nachmittags“ ein Programm an, innerhalb dessen Adornos Verhältnis zu Lenin erörtert werden soll. Wem dies absurd erscheint, der muss zur Kenntnis nehmen, dass sich Adorno gelegentlich positiv zu Lenin geäußert hat.

In einem Brief an Horkheimer aus dem März 1936 etwa moniert er an Erich Fromm, dass es sich dieser mit dem Begriff der „Autorität“ zu leicht mache: mit einem Begriff „ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur“ zu denken sei. Mehr noch: In aphoristischen Notizen aus dem Februar 1935 meint Adorno, dass man – anstatt Arbeiter der Verteilung von Flugzetteln zu opfern – „lieber Lenins Verhalten zu Kerenskis Revolution studieren“ möge: „seine Fähigkeit“, so Adorno zustimmend, „den gesellschaftlichen Hebelpunkt zu entdecken und zu nutzen: mit minimaler Kraft die unermessliche Last des Staates zu heben“.

Nachsicht angebracht?

Ein Fall für Nachsicht? Adorno war damals, 1935, zweiunddreißig Jahre alt, besuchte Eltern und Tante in Frankfurt, um dann im Schwarzwald Urlaub zu machen. Ein Aufsatz zum Jazz aus dem Jahr 1933, in dem vom musikalischen Einfluss der „Negerrasse“ die Rede war, ging einer 1934 in der Zeitschrift Die Musik veröffentlichen Rezension vorher, in der Adorno eine Vertonung von Gedichten des Reichsjugendführers von Schirach lobte, die – in seinen Worten – dem von Joseph Goebbels proklamierten „romantischen Realismus“ entspreche.

Was all das über den systematischen Gehalt seines Werks sagt? Nichts! Ebenso wenig wie die mit gutem Grund nicht publizierten Bemerkungen zu Lenin. Er habe derlei auch noch in den 1950er Jahren zu Horkheimer geäußert? Gut möglich, indes: Da sich Adorno in den 1960er Jahren lobhudelnd über Theodor Heuss ausgelassen hat, wird man auch dem kein allzu großes Gewicht zumessen können.

Aber wie dem auch sei, Anregenderes kommt aus den USA. Auf der Homepage von Chris Cutrone, einem in Chicago wirkenden Philosophen Jahrgang 1970, steht fett gedruckt und unübersehbar „The Last Marxist“ und darunter – wie das Amen in der Kirche – etwas kleiner: „Chris Cutrone is the last marxist!“ Wer meint, es hier mit unheilbarem Größenwahn zu tun zu haben, wird schnell eines Besseren belehrt: Cutrone, Gründer und Spiritus Rector einer sich weltweit organisierenden posttrotzkistischen, neoneomarxistischen Gruppe, bemüht ein heilsgeschichtliches Motiv.

Geht es ihm doch darum, sich – wie Johannes der Täufer, der sich als Vorläufer des Messias verstand – als letzter Vertreter des Alten und somit Wegbereiter des Neuen zu präsentieren: als letzter Marxist, der den Übergang ins gelobte Land eines von den Gebrechen der Vergangenheit geheilten „Marxianismus“ anführt.

Cutrone ist geistiger Mentor der weltweit agierenden Gruppe „Schnabeltier“, auf Englisch „Platypus“, die 2006 gegründet wurde und in ihrem „statement of purpose“ erklärt: „We agree with the young Marx in ’the ruthless criticism of everything existing‘ […]. Our present does not deserve affirmation or even respect, for we recognize it only for what came to be when the left was destroyed and liquidated itself.“

„Platypus“ halten übrigens eine genauestens austarierte Leseliste von Marx über Lukács bis zu Trotzki vor, die curricular – die Textstücke sollen systematisch aufeinander aufbauen – organisiert sind.

Aber was hat all das mit jenem eigentümlichen, so gar nicht in die Evolution passenden, eierlegenden Säugetier zu tun? Nun, Friedrich Engels sah so ein Tier im Londoner Zoo und kam zu dem Schluss, dass die Vernunft der Natur allen Darwin’schen Glaubenssätzen zum Trotz keineswegs mit den jeweiligen, historisch verfestigten Standards menschlicher Vernunft übereinstimmen muss. Kritische Theorie als beharrlicher, gleichwohl hoffnungsvoller Irrläufer der kulturellen Evolution?

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Autor und Kolumnist
1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“

5 Kommentare

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  • OT
    Ohne Titel

    Zum Nachhören, "was all das über den systematischen Gehalt seines Werks sagt":

    http://audioarchiv.k23.in/Referate/ISF_Freiburg/Quadfasel-Adornos-Leninismus_2012-12-05.mp3

  • KK
    Karl K

    Nachklapp

     

    Sorry I forget :

     

    Damit klar wird - wie schräg die Reaktion von Horckheimer und Adorno auf Habermas Untat war :

     

    Heideggers Martel hatte sich nicht entblödet Teile seiner Nazi-Texte - ungekürzt und unkommentiert erneut zu veröffentlichen!!

     

    Und das ging Jürgen Habermas - aber zumindest Horckheimer nicht - gewaltigüber die Hutschnur.

    Horckheimer/Adorno - man faßt es nicht. Zumal es ja kein Geheimnis ist, daß das Meisterwerk dieser Dubbelgang ´Dialektik der Aufklärung´ ohne die USA-Runde nie und nicht so entstanden wär.

     

    Professorenetikette - jo mei, legst di nieder!

  • KK
    Karl K

    Soll ich davon ausgehen, daß Sie Ihren Artikel nicht weiter kommentiert sehen wollen?

  • CE
    Ch. E.

    Toller Artikel, der mir genau wie, der diesem vorangegangene Kommentar, sehr gut gefällt und das Frühstücken versüßt, weil ich nicht recht weis, was ich letztlich daraus schließen soll und so folglich auch ein bitter-süßer Nachgeschmack aufdringlich wird. Der Frage nach der Banalität des Bösen ging ja schon Hannah Arendt nach, in Ihrer Analyse des Cheforganisators des Holocausts, Adolf Eichmann. Hierbei werden schwer verständliche Gegensätze aufgezeigt, wie, dass eine Person gleichzeitig ein dämonisches Monster sein kann und trotzdem ein gewissenhafter Familienvater ist. Der Wunsch, dass eine Person, welche herausragende fachliche Fähigkeiten besitzt, wie etwa das Organisieren oder Systematisieren, auch wertvolle menschliche Eigenschaften hat, ist allgegenwärtiger Volksglaube. Dennoch bleibt eben jene Frage nach der augenfälligen Unvereinbarkeit der Gegensätze in einer Person, welche zunächst die Diagnose Schizophrenie begünstigen, also eine Abspaltung gewisser Bewusstseinsinhalte, welche nicht verarbeitet werden können. Doch wie konnte es soweit kommen? Der Psychoanalytiker W. Schmidbauer geht davon aus, dass der Kapitalismus die Empathie zerstört, indem er uns "ein kaltes Herz" beschert. Seine Diagnose Volks-Depression, könnte aber genauso nur eine symptomatische Begleiterscheinung der wirklichen Ursache sein, wie, die Vermutung der Schizophrenie als Auslöser dieser Widersprüche. Schon Schopenhauer hatte an Kant deswegen einen "Narren" gefressen, weil dieser die Vernunft zur grundlegenden Triebfeder der Aufklärung machte, anstatt die Fähigkeit zur Empathie, die Fähigkeit "im anderen Individuo, das selbe Wesen, wie im Eigenen zu erkennen". Wenn wir in diesem Zusammenhang von Gefühlsblindheit sprechen, so sind Depression und Schizophrenie, vielleicht nur Geschwister, eines das Leid abspaltet, externalisiert, eines, das alles Leid zum Eigenen macht. Der Vater aber ist für mich der Autismus. Dieser ist nach einer sehenswerten Dokumentation auf arte, nicht in erster Linie eine neurologische Funktionsstörung, sondern ist hervorgerufen durch ein Ungleichgewicht im "Sitz der Seele" (TCM). Man ist, was man isst. Deswegen bleibt uns nur noch eines, nämlich zum probiotischen Jogurth zu greifen und unser Frühstück mit Jazzmusik von George Benson fortzusetzen...

  • KK
    Karl K

    Micha Brumlik hat auf dem Boden des Sommerlochs die Krümel zusammengefegt.

    Fazit: man kommt schwer rein und am Ende - so what?

     

    Aber die Grätsche für Adorno zeigt den ungebrochenen professoralen Gestus.

    Negerrasse - Diffamierung des Jazz - Lob für die Vertonung der Elaborate eines Nazis - geschickt kombiniert mit Leninapologieen.

    Nein - das alles hat nichts mit dem systematischen Gehalt seines - Teddys - Werk zu tun.

     

    Wir müssen uns Theodor Adorno also als einen Schizophrenen vorstellen!?

    Mir ist jetzt auch die Triebfeder Brumliks erkennbar, hat er doch anderwo sich gemüßigt gefühlt, für den Verfasser von "Der Führer schützt das Recht" - Carl Schmitt posthum Sympathie zu äußern.

    Der in einer grausigen, unsäglichen Schreibe die bestialische Ermordung von Röhm und v. Schleicher gerechtfertigt hat. Wobei er zudem von letzterem mit E.R.Huber dessen rechtlicher Berater war.

     

    Man kann sich bekanntlich auch zu Tode adornieren.

    Aber diese professorale Abkapslung von der Welt zeigt sich gerade in der Fehleinschätzung des Jazz -

    einfach den Schuß nicht gehört.

    Und dazu paßt es, daß Adorno keinen Arsch in der Hose hatte, als Horckheimer von ihm verlangte, den Habilitanden Jürgen Habermas rauszuschmeißen,

    weil der es gewagt hatte, den Herrn Professor Martin Heidegger - völlig zu Recht - in einem Beitrag öffentlich anzupissen.

    Daß der honorige Wolfgang Abendroth in Marburg Habermas - ohne diesen näher zu kennen - als Habilitanden übernahm und die bekannten Folgen sind nun wahrlich nicht das Verdienst von Adorno.

     

    Das Haar in der Suppe und der Balken im eigenen Auge - vielleicht klappt´s ja auf die alten Tage noch. Das Auge sieht alles, nur nicht sich selbst.