Plakat „Keep calm and carry on“: Die Kunst des Krieges
Im Sommer 1939 wurde das Plakat mit der Aufschrift „Keep calm and carry on“ tausendfach gedruckt – aber nie aufgehangen. Heute ist es allgegenwärtig.
Es ist der Fund seines Lebens. Im Herbst 2000 wühlt der britische Secondhand-Buchhändler Stuart Manley in ersteigerten Bücherkisten. Der 69-Jährige erinnert sich: „In der ersten Kiste waren dreißig Bücher. Meist schlechte Qualität. Unverkäuflich.“ Doch auf dem Boden der Kiste findet er ein Plakat. Das Motiv ist schlicht. Ein warmes Rot füllt die Fläche aus. Am oberen Bildrand prangt eine weiße Krone. Darunter steht in weißen Großbuchstaben: „Keep calm and carry on.“ Bleib ruhig und mach weiter.
Stuarts Ehefrau Mary hängte es in ihrem Laden im nordostenglischen Alnwick auf. „Wir mochten es von Anfang an“, sagt der Brite. Der alte Druck harmoniert mit seinem prächtigen und riesigen Buchgeschäft. Das befindet sich in einem stillgelegten viktorianischen Bahnhof. Der Eisenbahnliebhaber Stuart Manley renovierte unzähliges Interieur seit dem Bezug 1991 – Glaskuppeln, Bahnhofsuhren, das Wartehaus und den Teeraum. Im Winter macht das Ehepaar die alten Kamine an. In etwa 350.000 gebrauchten Büchern lässt sich stöbern.
Das Poster geht bei Barter Books aber nicht unter. An der Kasse hat es einen prominenten Platz. Bald nachdem es dort hing, verlangten erste Kunden einen Nachdruck. Als die Nachfrage zu groß wurde, bestellte Stuart Manley eine erste Auflage von 500 Exemplaren. „Ich dachte damals, die hält für Jahre.“ Da sie in kurzer Zeit ausverkauft war, nahm der Brite den Druck fest ins Sortiment auf. Seine Verkaufserfolge sprachen sich herum. Das Urheberrecht war lange abgelaufen und so druckten andere Händler es einfach nach.
Heute ist das Poster in allen Einkaufsstraßen Großbritanniens präsent. Im gleichen Design gibt es inzwischen jeden Alltagsgegenstand: Tassen, T-Shirts, Regenschirme, Mousepads. Absatzstatistiken existieren nicht. Die Schätzwerte für alle Waren aber liegen in Millionenhöhe. Auch im Ausland sind diese begehrt. Londons Touristen-Shops verkaufen sie neben den etablierten Wahrzeichen des Landes: Miniaturen von Big Ben, Union-Jack-Flaggen, Monarchie-Kitsch.
Zahlreiche Parodien
Ein rätselhaftes Charisma geht von dem Plakat aus. Es hängt in Pubs, Büros, Krankenhäusern, Botschaften und in Londons Downing Street. Es kennt keine Klassen, Schichten und Milieus. Auch Prince Charles gab in einem Interview an, ein Exemplar zu besitzen.
Weil Populäres leicht zu veralbern ist, gibt es zahlreiche Parodien zum Poster und dem Hype darum. Die bekannteste zeigt eine weiße Krone, die Kopf steht. Darunter heißt es: „Now Panic and Freak Out“. Per Smartphone-App lassen sich eigene Persiflagen erstellen. Hersteller Back Bay Bytes will seine Veralberungs-App 100.000-fach verkauft haben. Allein 2012. Daneben wandeln Läden und Cafés die papierne Stilikone ab: „Keep calm and eat cupcakes!“
Das Poster aus dem Weltkrieg, das ein Buchhändler in der Provinz zufällig fand, hat in Großbritanniens Kultur seine Spuren hinterlassen. Seine einfache und schöne Sentenz ist zum geflügelten Wort geworden. In Artikeln vieler großer, auch seriöser Zeitungen – Guardian, Times, Independent, Telegraph – findet man sie. Der Onlineauftritt des Economist nutzte die sanftmütige Durchhalteparole seit 2011 viermal als Überschrift, zumeist bei Krisenthemen wie zum Beispiel Griechenlands taumelnde Wirtschaft.
Das Poster stammt aus der Vorzeit des Zweiten Weltkriegs, doch kaum ein Brite kannte es vor dem Jahr 2000. Selbst der Kriegsgeneration war es weitgehend fremd. Entworfen wurde es noch in Friedenszeiten im Juni 1939. Da hielt London einen Krieg mit Deutschland längst für unvermeidlich. Für den Ernstfall ließ man das Plakat mit zwei weiteren Propagandapostern im August drucken.
„Autoritärer Tonfall“
Beim Kriegseintritt sollten diese binnen 24 Stunden landesweit plakatiert werden. Einen Monat später überfiel Deutschland Polen. Das Vereinigte Königreich reagierte mit der Kriegserklärung. Zwei Poster der 3er-Serie wurden daraufhin tatsächlich im Land aufgehängt. Auf dem ersten stand: „Dein Mut, deine Heiterkeit, deine Entschlossenheit wird uns den Sieg bringen.“ Das zweite warnte: „Die Freiheit ist in Gefahr. Verteidige sie mit all deiner Macht.“
Das heute so beliebte Poster aber hielt London zurück. Seine Auflage überstieg mit 2,5 Millionen Exemplaren sogar die der beiden anderen zusammen. Erst nach einem massiven Luftschlag oder einer Invasion durch die Deutschen sollte es aushängen. Eine deutsche Invasion blieb jedoch aus. Bei deutschen Luftangriffen starben ab Sommer 1940 zwar Zehntausende Briten, doch das Poster kam trotzdem nur in Einzelfällen zum Einsatz.
Die britische Historikerin Rebecca Lewis schrieb ihre Doktorarbeit zu den Postern. Sie vermutet, dass das Plakat als nicht mehr zeitgemäß ausgemustert wurde: „Die drei Poster aus dem Sommer 1939 prägt ein autoritärer Tonfall“, sagt Lewis. Die Obrigkeit appellierte ans Volk, sich für den Krieg zu engagieren.
„Ein Jahr später bei den Luftangriffen war das nicht mehr nötig“, sagt die Historikerin. Die Bevölkerung folgte bereitwillig dem Kriegskurs der Politik. Neuere Propaganda betonte, dass der Krieg der Krieg aller Briten sei. Lewis vermutet, dass infolge von Papierknappheit fast alle „Carry on“-Poster recycelt wurden. Die verbleibenden Exemplare verschwanden in der Versenkung.
Bisschen steif, aber tapfer
Seit seiner Wiederentdeckung vor zwölf Jahren hat das Plakat bei vielen Briten einen Nerv getroffen. Seine Botschaft wird in Internet-Foren als „very british“ gerühmt. „Keep calm and carry on“ sei britisches Programm: Der Versuch, stets Haltung zu bewahren. „Sie betrachten das Poster mit einem Augenzwinkern“, sagt Alain Samson, ein Sozialpsychologe an der London School auf Economics.
Die Wochenzeitung Economist sieht das anders. Die Briten schauten auf das Poster eher wie in einen Zerrspiegel. Darin sehen sie sich größer, als sie sind: „Der Slogan passt einfach perfekt zum mythischen Selbstbild der Briten. Man ist ohne es herauszuhängen tapfer und nur ein wenig steif dabei. Selbst wenn die Bomben fallen, es wird weiter Tee gekocht.“
Dem Plakat wird im Internet aber auch von Briten, mit denen man spricht, eine beruhigende Wirkung zugesprochen, die den Absatz ebenso ankurbeln dürfte. Wenn bei ihr im Büro Panik ausbreche, bringe sie ein Blick auf das Plakat wieder runter, schreibt eine Frau in einem Forum der BBC. Eine andere schreibt, selbst als ihr Mann schwer erkrankt sei, habe ihr die Botschaft geholfen.
Ein Student aus Durham nahe Alnwick, wo Stuart Manleys Buchladen steht, behauptet, gerade in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit sei ihm das Plakat ein Kraftspender. Manley widerspricht aber der verbreiteten These, dass die Weltwirtschaftskrise den Poster-Boom auslöste. Der Absatz sei bereits zuvor gestiegen. Denn: „Stress gab es schon vorher.“
Er schließt aber nicht aus, dass die Rezession die Nachfrage verstärkt hat. Rebecca Lewis ist davon überzeugt: „In Zeiten schmerzhafter Sparmaßen sehnen sich die Leute nach der Vergangenheit und werden nostalgisch“, sagt die Historikerin. In ihrer Doktorarbeit konnte sie nachweisen, dass Propagandabotschaften tatsächlich funktionieren, wenn sie zur Stimmung im Volk passen.
Die Designer des Plakats sind übrigens bis heute unbekannt.
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