Kommentar Griechenlandpolitik: Europa dem Wahlkampf geopfert
Deutschland riskiert die Verschärfung des Problems: Ohne einen zweiten radikalen Schuldenschnitt wird die Wut der europäischen Staaten aufeinander zunehmen.
S o viel Unehrlichkeit auf einmal gibt es selten in der Politik. Griechenland hat nach Ansicht der Troika alle Auflagen erfüllt, aber Deutschland mauert weiter. Der Hintergrund dieses erbärmlichen Schauspiels ist klar: Die Bundesregierung will unter allen Umständen verhindern, dass noch vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr echtes Geld in die Hand genommen werden muss, um Griechenland zu helfen. Um das zu erreichen, verrät sie ihre eigenen Prinzipien ebenso wie das Vertrauen in Europa.
Dass Griechenland trotz der gewaltigen Anstrengungen mehr Zeit braucht, um die Sparziele zu erreichen, ist unbestritten. Und dass das Hinausschieben Geld kostet, ist simple Mathematik. Dennoch bestehen Schäuble und Merkel darauf, dass der Bundeshaushalt nicht belastet werden darf. Selbst eine Zinssenkung für Griechenland hat Deutschland verhindert, weil sie die Einnahmen im Bundeshaushalt unmittelbar verringern würde.
Weil mehr Zeit für Griechenland ohne neues Geld nicht geht, setzt Schäuble auf einen Trick: Finanziert werden soll der Aufschub über neue Garantien für den Rettungsschirm EFSF. Bei denen ist in diesem Fall aber schon fest eingeplant, dass sie am Ende tatsächlich fällig werden. Alternativ sind spezielle Staatsanleihen im Gespräch, die indirekt von der Europäischen Zentralbank garantiert werden – was das Problem ebenfalls in die Zukunft verschieben würde (und zudem zeigt, dass die Regierung ihre Ablehnung einer Staatsfinanzierung mit der Notenpresse gern aufgibt, wenn es ihr nützt).
ist Parlamentskorrespondent der taz.
All diese Maßnahmen sind nicht falsch, vermutlich lässt sich damit tatsächlich Zeit gewinnen. Aber das Problem lösen kann man auf diese Weise nicht. Das gelingt nur mit einem zweiten Schuldenschnitt für Griechenland, an dem sich diesmal auch die staatlichen Gläubiger beteiligen müssen. Das sieht nicht nur der IWF so, das wissen auch Schäuble und Merkel. Aber weil sie sich nicht trauen, dies ihren Wählern zu erklären, spielen sie lieber auf Zeit.
Die Opposition kritisiert das zwar, ist aber – mit Rücksicht auf ihre Wähler – mit Vorschlägen für Radikallösungen wie einen Schuldenschnitt ebenfalls zögerlich. Damit riskiert die deutsche Politik, dass sich das Problem weiter verschärft und die Wut der europäischen Staaten aufeinander weiter zunimmt. Lange wird Europa solche nationalen Egoismen nicht mehr aushalten können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch