Kurdisches Neujahrsfest Newroz: Eine Feier, auf die sich niemand freut
Jedes Jahr am 21. März findet das kurdische Newroz-Fest statt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Blut fließen wird – wieder einmal.
Der Legende nach herrschte vor 2.500 Jahren König Dehak über Assur, ein außerordentlich grausamer Tyrann, der den Frühling verbot. In seinem Reich lebte auch der Schmied Kawa. Dem König wuchs aus jeder Schulter eine Schlange. Um die Schlangen zu ernähren, ließ er jedes Jahr zwei kurdische Jünglinge aufs Schloss bringen und von den Köchen töten. Ihre Hirne gab er den Schlangen zu fressen. Schließlich gelang es Armayel und Garmayel, die genug vom Despotismus hatten, als Köche ins Schloss zu gelangen.
Fortan töteten sie von den beiden Jungen immer nur jeweils einen und verhalfen dem anderen heimlich zur Flucht. Diese Jungen, die sie jedes Jahr vor dem König retteten, wurden die Stammväter der Kurden, Schmied Kawa bildete sie insgeheim aus und baute mit ihnen eine Streitmacht auf. Unter Kawas Führung marschierte die Truppe an einem 20. März gegen den Palast und Kawa erschlug den Tyrannen mit seinem Schmiedehammer. Auf den Hügeln ringsum ließ er zur Feier des Sieges Feuer entzünden. Am Tag darauf hielt der Frühling Einzug in die Welt.
Seither kündet das Feuer ebenso vom Frühling wie auch von Kampf und Opfer. 2.500 Jahre später, am 21. März 1982, riss ein kurdischer Jugendlicher im türkischen Gefängnis von Diyarbakır drei Streichhölzer an und verbrannte sich. Heute ist Mazlum Doğan ein Symbol der kurdischen Bewegung. Zwei Monate darauf saßen erneut vier Jugendliche in der Zelle im Gefängnis von Diyarbakır. Wieder zündeten sie sich mit drei Streichhölzern an.
Herausforderung Feuer
Es heißt, das Feuer der bewaffneten kurdischen Bewegung PKK habe sich an den Flammen dieser Körper entzündet. In den Jahren danach verbrannten sich immer wieder junge Menschen im Protest gegen einen Tyrannen und genau wie in der Legende wuchsen die geretteten jungen Kurden als eine Streitmacht heran. Jedes Jahr am 21. März entzünden die Kurden das Newroz-Feuer und springen zur Feier des Tages darüber. Sie fordern das Feuer heraus, sie spielen mit ihm und sie zeigen jedes Mal, wie nah diesem Volk die Eventualität der Selbstverbrennung liegt.
Die 43-Jährige lebt als Juristin, Journalistin und Schriftstellerin in Istanbul. Sie schreibt für türkische und internationale Medien. Auf Deutsch erschien 2015 ihr Buch „Euphorie und Wehmut: Die Türkei auf der Suche nach sich selbst.“ (Hoffmann und Campe).
Allerdings endet die Geschichte ganz anders als die Legende. Nie kommt am 21. März der Frühling in die Türkei. Am 22. März wird stets vor allem über die Zahl der Toten gesprochen. Vom Frühling spricht niemand.
Vor diesem 21. März denke ich daran, was dem Fest in den letzten 20 Jahren widerfuhr.
Newroz gewann seit Beginn der 1990er-Jahre für die kurdische Bewegung zunehmend an politischer Bedeutung. Als klar wurde, dass es mit Repression nicht auszumerzen war, versuchte der Staat es 1995 mit einer neuen Strategie. Offizielle Feierlichkeiten! Plötzlich entdeckte man Nevruz – nicht Newroz! – als ursprünglich türkisches Fest.
„Größter Kundgebungsplatz des Mittleren Ostens“
Nun gehörte es für einige Jahre zu den Pflichten staatlicher Vertreter, in ihren zugeknöpften Anzügen über winzige, unter militärischer Aufsicht entzündete Feuer im Zentrum von Ankara zu hopsen. Schwerbäuchige Staatsmänner mittleren Alters legten nach Kräften athletische Anstrengungen an den Tag, um den Kurden das Fest zu entreißen, doch im kollektiven Bewusstsein brannte Nevruz nie so stark wie das Newroz-Feuer.
In den Jahren 1991 bis 2000 fielen bei den Feiern, die als „Aufmarsch der illegalen bewaffneten Terrororganisation“ verstanden wurden, 125 Menschen der Polizeigewalt zum Opfer. Nachdem 2002 die AKP an die Macht gekommen war, milderte sich der Druck, die Menschen strömten zu den Newroz-Feiern, in Diyarbakır rund eine Million. Dort hängt am Zugang zum Festplatz ein Schild: „Größter Kundgebungsplatz des Mittleren Ostens.“
Jahr um Jahr füllte sich der Platz mehr. Die denkwürdigsten Newroz-Feiern fanden 2013 und 2014 statt. Es wurden lange Botschaften von Abdullah Öcalan aus dem Gefängnis verlesen, dessen Name zuvor gar nicht oder nur mit dem Zusatz „Babymörder“ genannt wurde.
Nun rühmten die Mainstream-Medien seine Wortmeldungen. Mit der „kurdischen Öffnung“ (so wurden die Friedensverhandlungen im Kurdenkonflikt von der Regierung genannt) strömten auch regimetreue Journalisten zu Newroz, das jahrelang als „illegale Aktivität“ bezichtigte Fest wurde erstaunlich fröhlich gefeiert.
224 tote Zivilisten in halbem Jahr
Der Enthusiasmus hielt an, bis die Regierung plötzlich eine Wende vollzog. Heute hat das politische Klima radikal verändert - aufgrund der seit Juni 2015 in den kurdischen Provinzen im Südosten durchgeführten Militäroperationen. Allein von August 2015 bis Februar 2016 starben in den kurdischen Regionen nach Angaben der Menschenrechtsstiftung der Türkei 224 Zivilisten, darunter 42 Kinder, 31 Frauen, 30 Über-60-Jährige. Sie alle fielen den ausgedehnten Ausgangssperren in der Region zum Opfer.
Die Anzahl der Bürger, die ihre Häuser in Folge der Ausgangssperren, Operationen und innerstädtischen Kämpfe verlassen mussten, belief sich bereits Ende Januar 2016 auf 200.000. Das Gesundheitsministerium gibt nun die Zahl der zur Migration gezwungenen Personen mit 355.000 an. Es gibt also keinen Grund zum Feiern in diesem Jahr. Das Feuer brennt in den Häusern und Herzen.
Die Intellektuellen, AkademikerInnen und JournalistInnen, die sich zur kurdischen Sache äußerten waren stets eine Minderheit. Jetzt aber sind auch noch die Letzten verstummt. Es ist nicht König Dehak, der mit Blut, mit dem Blut junger Türken und Kurden, eine Vielzahl Schlangen ernährt. Doch diesmal ist das Gemetzel von ungewohntem Schweigen begleitet.
„Die wären sowieso Terroristen geworden“
Der Trotz der bewaffneten kurdischen Bewegung, ihre Weigerung, sich den Triumph bei den Wahlen vom Juni 2015 auf der politischen Bühne zu eigen zu machen, ihr Beharren auf dem bewaffneten Kampf und die Repression des autoritären Regimes in der Türkei, mittlerweile aller Welt bekannt, machen es Intellektuellen unmöglich, sich zu diesem Thema zu äußern. Regimetreue Journalisten, die früher an Newroz-Feiern teilnahmen, sagen heute, wenn Kinder umgebracht werden, ungeniert: „Die wären später sowieso Terroristen geworden.“ Heute herrschen ein Rassismus und eine Gewalt, die die 1990er Jahre, die uns als die blutigsten galten, in den Schatten stellen.
Die nachhaltigste und deutlichste Auswirkung der letzten zehn Jahre AKP-Regierung dürfte folgende sein: Die kurdische Sache, die in den 1990er Jahren für die Intellektuellen sowohl in der Türkei wie auch im Westen eine Sache der Freiheit, Gleichheit und vor allem der Menschenrechte war, ist heute zu einem beliebigen Konflikt im Nahen und Mittleren Osten verkommen. Zu einem weiteren Gegenstand der Realpolitik für Nahost-Experten.
Thema Kurden wird ausgespart
Besonders tragisch aber ist: Die Mainstream-Medien des Westens, die die weiblichen Peschmerga in den Kämpfen in Syrien als Superheldinnen gegen das Menschheitskarzinom IS inszenierten, sogar Modeaufnahmen mit Milizionärinnen machten, haben in der Trübung der politischen Gleichgewichte dieses Volk, die „gerechten Krieger“, schlicht vergessen. Nicht allein die Türkei, offenbar die ganze Welt hat beschlossen, über das Thema Kurden zu schweigen.
Dass in diesem Jahr die Newroz-Feierlichkeiten in fast allen Großstädten der Türkei verboten sind, überrascht da nicht. Für die Kurden ist es diesmal das Fest des Allein- und Vergessenseins. Im Nahen und Mittleren Osten, wo die Grenzen der Menschlichkeit ausgelotet werden, sieht es, während Granaten explodieren, Waffen feuern und Kinder sterben, nicht nach Frühling für Schmied Kawa aus. Denn in der Türkei ist es inzwischen ein Verbrechen, auch nur zu sagen: „Da sterben Kinder.“ Der Westen der Türkei, die kaum noch Zeit für Trauer um die vor ihrer Haustür durch Sprengsätze ums Leben kommenden jungen Menschen findet, erfährt von den Toten im Osten nicht einmal.
Und Dehak lässt heute beide Jünglinge töten. Niemand ist da, der zumindest einem von ihnen zur Flucht verhelfen würde.
Aus dem Türkischen übersetzt von Sabine Adatepe
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