Hartz-IV-Gegner Ralph Boes in Berlin: Aktivist im Revolutionsmodus
Manche nennen ihn Selbstdarsteller: Boes trägt seinen Hungerstreik aus Protest gegen die Sanktionen des Jobcenters vor das Brandenburger Tor.

Ralph Boes hat, so sagt er, seit 53 Tagen nichts gegessen. Seine Aktion richtet sich gegen die Hartz-4-Sanktionen, denen er sich ausgesetzt sieht. Seit er vor sechs Jahren arbeitslos wurde, kämpft er gegen die Entwürdigungen durch das Jobcenter an. Davor war er „Manager für irgendwas.“
Seit knapp zwei Jahren ist Boes komplett sanktioniert, das Jobcenter zahlt keinen Cent, weder Miete noch Strom oder Nahrung. Der Aktivist lebt von Darlehen seines Unterstützerkreises. Für die Sanktionen hat der 58-Jährige gekämpft: Er hat so lange provoziert, bis die Mitarbeiter im Jobcenter ihm erst 30 Prozent, dann zwei Drittel und schließlich jede Zahlung strichen.
Boes tourte durch Deutschland und hielt Vorträge über die Würdelosigkeit des Hartz-4-Systems. Gesponsort wurden seine Auftritte von Prominenten, die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen. Er erzählte dem Mitarbeiter im Jobcenter davon, und der fragte ihn: „Was soll ich jetzt mit Ihnen machen, Herr Boes?“. Man solle ihn sanktionieren, antwortete Boes. Der Mitarbeiter im Jobcenter bot ihm statt dessen einen Job im Call-Center an, aber Boes lehnte dankend ab. Er sei im Revolutionsmodus, das sei ein Fulltime-Job.
Hungern bis zum Ende der Sanktionen
Boes brauchte die Sanktionen, um gerichtlich gegen die Praxis vorzugehen. Nun hat er zumindest einen Teilerfolg erzielt. Auf Bitten der Initiative „Wir sind Boes“, die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt, haben der ehemalige Bundesrichter und Linken-Abgeordnete Wolfgang Neskovic und dessen Mitstreiterin Isabell Erdem ein Gutachten erstellt, in dem sie die Sanktionierungen als unvereinbar mit der Menschenwürde und deshalb für verfassungswidrig erklären.
Boes selbst hatte in seinen Gerichtsverfahren damit bisher keinen Erfolg. Im Mai bestätigte das Sozialgericht in Gotha dafür angesichts der Klage eines Erfurter Hartz-4-Empfängers die Einschätzung von Neskovic und Erdem und rief Karlsruhe an. Aber ob und wann die Frage dort vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird, steht noch in den Sternen.
Boes will hungern, bis das Verfassungsgericht die Sanktionen kippt. Wenn nicht, dann auch bis zum bitteren Ende, sagt er. Er nennt das eine „Entscheidung zwischen Würde und Leben“. Die Gefahr zu sterben nehme er als gegeben hin. Seine Beerdigung und alles andere seien für den Fall der Fälle bereits geregelt. Es ist nicht das erste Sanktionshungern des 58-Jährigen – vor zwei Jahren hielt er es knapp über 50 Tage ohne feste Nahrung aus. Damit das Jobcenter weiterhin seine Krankenkasse bezahlt, muss er Essensmarken beantragen.
„Die Blicke der Mitarbeiter waren herrlich“
Das System hält Boes für „völlig unzumutbar“. In den meisten Supermärkten würden die Marken nicht angenommen und die Kassierer seien überfordert, sie müssten erst einmal durch die Lautsprecher um Hilfe rufen, was sie damit anstellen sollten. Um den Mitarbeitern deutlich zu machen, was er von den Marken hält, begann er sie zu verspeisen – erst im Jobcenter nun vor dem Brandenburger Tor.
„Die Blicke der Mitarbeiter waren herrlich“, lacht Boes. Er bemüht Hannah Arendt, wenn er über die Mitarbeiter des Jobcenters spricht. Dort finde man die „Banalität des Bösen“, sagt er: Schreibtischtäter, die Dienst nach Vorschrift machten, ohne das Schicksal hinter dem Antrag wahrzunehmen.
Mit seiner Form des zivilen Ungehorsams macht sich Boes nicht nur Freunde. Besonders unter denen für die er eigentlich kämpfen möchte, ist er umstritten. „Andere Hartz-4-Empfänger bezeichnen mich als Selbstdarsteller mit Profilierungszwang“, weiß Boes. In den Internetforen der Arbeitslosen werde er konsequent ignoriert. „Das liegt natürlich daran, dass es dort um ganz andere Fragen geht. Ich versuche das System abzuschaffen. Sie versuchen, darin so gut wie möglich zu überleben.“
Jeden Abend um 22 Uhr muss Boes seine Sachen zusammen räumen, die Polizei guckt schon auf die Uhr. Ob er morgen wiederkomme, das wisse er noch nicht. Manchmal habe er das Gefühl, seine Kräfte gingen dem Ende zu.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung