Roma in der Slowakei: Dorthin, wo alle wegziehen

Im Osten der Slowakei leben Roma in Siedlungen, die von Nicht-Roma verlassen worden sind. Eine Reise zu den ärmsten Menschen Europas.

Betonierte Straßen gibt es in der Romasiedlung nicht – und es mangelt noch an weit mehr. Bild: Kristina Magdolenova/Mecem

KECEROVCE taz | Julo Pecha (36) ist jeden Tag in Kecerovce unterwegs. Seit acht Jahren. Der Sozialarbeiter kennt jeden hier und in den anderen "Romasiedlungen". "Ein Teil der Leute lebt ohne Elektrizität und Wasser in Baracken", sagt er. "Jetzt, im Winter, kontrollieren wir regelmäßig, ob jemand erfroren ist."

Der 3.000-Einwohner-Ort liegt im äußersten Osten der Slowakei, knapp 40 Kilometer von der Kreisstadt Kosice entfernt. Über 60 Prozent der Bewohner sind Roma - genauso wie in den drei Nachbargemeinden Rankovce, Boliarov und Vtáckovce, wo 1.500 Menschen leben.

Seit den 1980er Jahren verlassen die Nicht-Roma die Gegend um das Flüsschen Olsava. Damals hatte die kommunistische Führung des Landes den Bau eines Atomkraftwerks angekündigt. Der Exodus endete nicht 1989 mit dem Kommunismus. Erst 2006 wollte die demokratische Regierung die AKW-Pläne wiederbeleben. Daraus wurde zwar nichts. Aber die Drohung hängt weiter wie ein Damoklesschwert über der Region.

Die Häuser derer, die wegzogen, kauften von Anfang an vor allem Roma. Denn außer Angehörigen der größten Minderheit Europas will niemand in dem armen Gebiet zwischen ungarischer und ukrainischer Grenze leben. Vor allem nicht, wenn dieses irgendwann auch noch verstrahlt sein könnte. Wo doch bereits jetzt miserable Lebensbedingungen herrschen. Und die Häuser längst nicht mehr für alle Neuzuzügler und deren Nachkommen reichen.

Baracken und Schlammpfade

Eine der Romasiedlungen, die im Laufe der Jahre um Kecerovce entstanden, ist Kecerovské Peklany. Die meisten Gebäude sind Baracken, dazwischen verlaufen Schlammpfade. Nur gelegentlich sind Steinhäuser mit Elektrizitäts- und Wasseranschluss zu sehen. "Die sind alle schwarz gebaut worden", erklärt Sozialarbeiter Pecha, "die Stromleitungen sind auch illegal."

Jozef Janico (73) gehört zu denjenigen Einwohnern, die versuchen, ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Sein kleines Haus ist gemütlich, es hat Wasseranschluss und Badezimmer. "Ohne Geld geht alles langsam. Aber es geht. Man muss sich eben anstrengen", so der Hausherr.

35 Jahre hat Janico gearbeitet, 25 Jahre davon auf dem Bau. Täglich war er mit Nicht-Roma zusammen - ohne Konflikte: "Wir haben unser Pausenbrot geteilt. Wir waren aufeinander angewiesen. Der Albtraum begann mit der Demokratie, in der Roma nicht die gleichen Chancen haben wie die anderen."

Der Blick durchs Fenster scheint das zu bestätigen: Die Straßen im ehemals von Nicht-Roma bewohnten Teil des Ortes sind gepflastert, die der Romasiedlung nicht. Bei Regen waten die Menschen im Schlamm von Haus zu Haus. "Meine Schuhe bleiben jedes Mal stecken, wenn ich bei schlechtem Wetter hier unterwegs bin", berichtet der Sozialarbeiter Rodo Kroscen (36).

Freizeitangebote für junge Menschen gibt es kaum. Das soll eine Initiative jetzt ändern. Bild: Kristina Magdolenova/Mecem

Jugend ohne Perspektiven

Ein Viertel der Einwohner der Region sind 15 bis 25 Jahre alt. Romafamilien haben meist mehr Kinder als Nicht-Roma. Daher gehören die meisten jungen Menschen hier zur Minderheit. Auf die Schule gehen fast nur Romakinder. Der Lehrbetrieb läuft in zwei Schichten, das Turnen findet auf dem Gang statt, weil es keine Sporthalle gibt.

Bisher gibt es für Kinder und Jugendliche kaum Freizeitangebote. Nun hoffen die lokalen Sozialarbeiter auf das "Youth Empowerment Partnership Programme" (Yepp). Die Initiative, die von europäischen und US-Stiftungen sowie der Internationalen Akademie der Freien Universität Berlin getragen wird, will Romajugendliche in das öffentliche Leben einbinden.

"Eigentlich schalten die Menschen hier ab, wenn sie das Wort ,Projekt' hören", sagt Julo Pecha. "Es gab schon viele davon, alle wurden irgendwo weit weg vorbereitet und den Leuten aufgezwungen." Aber Yepp sei anders: "Hier können die Jugendlichen ihre eigenen Ideen umsetzen und lernen, sie selbst zu planen. Das ist etwas Neues und hat nicht nur die Jungen überzeugt, sondern auch deren Eltern." Das sei wichtig, denn Roma seien oft sehr konservativ. Ihr Leben kreist um die Familie. Trotzdem erlauben die Eltern ihren Kindern, an Yepp teilzunehmen. Für Pecha "ein großer Fortschritt".

Im äußersten Südosten der Slowakei, in der Kulturlandschaft aus Habsburgerzeiten mit der Hohen Tatra malerisch im Hintergrund, siedeln die Roma.

Eine Radreise durch diese Region will über ihre Situation aufklären und in Zusammenarbeit mit Akteuren und Journalisten vor Ort Eigeninitiativen aufzeigen und unterstützen.

Die Kommunisten versuchten, die Roma sesshaft zu machen. In die barocke Innenstadt Kovices wurden sie in den fünfziger Jahren einquartiert, der Staat garantierte ihnen eine minimale soziale Sicherheit. Bis 1990 herrschte Arbeitspflicht auch für die Roma.

Mit dem Wegfall der staatlichen Fürsorge nach dem Ende des Kommunismus hat sich ihre Situation dramatisch verschlechtert. Vollends abgehängt leben sie heute am Rande Europas.

Politische Bildung als wichtiges Gut

Von allen Yepp-Aktivitäten ist für den Sozialarbeiter die politische Bildung am wichtigsten. "Vor kurzem haben wir die Jugendbürgermeisterwahlen organisiert", berichtet er. "Die Teilnehmer haben zwei Kandidaten aufgestellt, Programme entwickelt und in Teams eine Wahlkampagne durchgeführt. Dabei zeigte sich, wie sehr die Jugendlichen die Erwachsenen kopieren: Sie haben versucht, Wähler mit Geschenken zu kaufen." Die jungen Roma hätten die Demokratie genauso angegangen, wie die Demokraten die Roma angehen.

Umso wichtiger, dass die lokale Verwaltung in die Yepp-Aktivitäten eingebunden ist. "Der Bürgermeister von Kecerovce hat zusammen mit jungen Roma an einer internationalen Konferenz teilgenommen", berichtet Julo Pecha. "Dabei ist ihr Verhältnis persönlicher geworden. Nun soll ein Klub entstehen, in dem die Jugend ihre eigenen Aktivitäten organisieren kann.

Brunnen statt Leitungen

Im Alltag aber ist bisher wenig von den Verbesserungen in Kecerovce zu spüren. Im benachbarten Rankovce ist die Situation ähnlich: Statt Wasseranschlüssen gibt es zwei Brunnen, die zum Teil hunderte Meter von den verstreuten Behausungen entfernt stehen. Die Gemeinde versucht seit Jahren, Sozialwohnungen zu bauen - findet aber keine Grundstücke, weil die Landbesitzer sich weigern, zu verkaufen.

"An der Spitze der Verweigerer steht ein Mann, der hier 16 Jahre Bürgermeister war. Von dem kann man nicht erwarten, dass er der jetzigen Gemeindeleitung hilft, den Lebensstandard der Roma zu erhöhen", sagt Stanislav Hada (47). Der heutige Bürgermeister von Rankovce wurde 2010 gewählt - und ist der erste Roma in diesem Amt. Er gesteht freimütig ein, dass sich die Dinge nur langsam bewegen.

Bisher versucht Hada, die Brunnen zu überdachen, damit wenigstens das Wasser in der Romasiedlung hygienisch einwandfrei ist. Zudem soll die Gemeinde dieses Jahr endlich Geld für Infrastrukturmaßnahmen erhalten. Damit könnte der Bürgermeister das Leben der Roma zumindest teilweise verbessern.

Politik? Nicht für uns!

Von denen sind viele ein Jahr nach Hadas Wahl längst in ihre politische Apathie zurückgefallen. "Politik interessiert mich nicht und ich gehe auch nicht wählen", sagt etwa Denisa Flitárová. "Ich habe alle Hände voll zu tun, damit wir überleben. Wir haben vier Kinder und mein Mann ist schon seit 12 Jahren arbeitslos." Sie ist 32 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen gemauerten Einzimmerhaus ohne Außenverputz, dafür reicht das Geld einfach nie.

"Meine Chancen, hier Arbeit zu finden, sind gleich null", sagt Flitárová, "manchmal mache ich Hilfsarbeit für die Gemeinde, aber dafür gibt es nur Krümel." Ansonsten lebt die Familie von Sozialhilfe. Wenn der Strom, die Fahrkarten für den Schulweg der Kinder und ein paar Kleider bezahlt sind, bleiben dem Sechspersonenhaushalt grad knapp 200 Euro. Oft fahren die Eltern ins nahe Polen, um billige Lebensmittel für die Familie zu kaufen.

Die meisten Bewohner der Romasiedlungen kämpfen für sich selbst. "Unter solchen Bedingungen ist es schon schwierig, einfachste Aktivitäten umzusetzen", sagt Sozialarbeiterin Frantiska Ondrasíková. "Immerhin haben wir jetzt in Boliarov eine Gruppe von jungen Menschen, die wirklich etwas tun wollen - und die damit auch die Gemeinde positiv nach außen vertreten", freut sich die 36-Jährige.

Die neue Gruppe von Aktivisten habe dank Yepp zusammengefunden. "Jetzt geht es darum, ihren Aktivitäten eine systematischere Grundlage zu geben", ergänzt Julo Pecha. "Denn seit wir ein paar positive Ergebnisse in Kecerovce und Rankovce haben, ändert sich die Stimmung langsam auch in Vtáckovce."

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