Debatte guter Aufstand, schlechter Aufstand: Ein paar Tage sichtbar sein
Ein guter Aufstand hat ein Ziel und Ideale. Ein schlechter Aufstand hat Opfer und ist sinnlos. Der schlechte Aufstand ändert die Verhältnisse nicht, er zeigt wie sie sind.
M it Verwunderung wurde bemerkt, dass der Aufruf "Empört euch!" bei den Bürgern in der ökonomischen und sozialen Mitte viel mehr Gehör fand als bei den viel direkteren Verlierern von Neoliberalismus und Sozialabbau. Und nun "explodiert" auch in Europa einmal das Ghetto.
Doch statt eines Aufstandes sehen wir in Großbritannien ein sonderbares Durcheinander von Hooliganismus, Terror, Kriminalität, eine hedonistische Masse wendet sich blitzrasch vom ersten Anlass der Empörung, dem Übergriff der Polizei, ab und einer Destruktions- und Plünderorgie zu. Diese "Revolte", so scheint es, will nichts ändern, provoziert mit dumpfer Gewalt eine nicht weniger dumpfe Gegengewalt. Sie ist ein Schock, und sie ist, was zu erwarten war.
Guter Aufstand, böser Aufstand
ist Publizist und Filmkritiker. Er lebt in Kaufbeuren und hat über 20 Bücher über das Kino geschrieben. Zuletzt erschien von ihm und Markus Metz: "Blöd-Maschinen: Die Fabrikation der Stupidität" (bei Suhrkamp).
Ein guter Aufstand hat ein Ziel und einen Diskurs. Ein schlechter Aufstand bricht aus oder entzündet sich. Ein guter Aufstand benennt den Gegner und sucht nach Allianzen. Ein schlechter Aufstand kommt übers "Wir zeigen es denen" nicht hinaus. Ein guter Aufstand formt in seinem Protagonisten Selbstbewusstsein, ein schlechter Aufstand erzeugt Rausch und Katzenjammer. Ein guter Aufstand hat Adressaten, ein schlechter Aufstand hat Opfer. In einem guten Aufstand geht es um Ideen und um Ideale, in einem schlechten Aufstand geht es um Randale, Flachbildfernseher und Schnaps. So einfach ist das?
Da ist der heroische, solidarische und kluge Aufstand der mittelständischen Jugend in der Arabischen Welt und in Israel. Und da ist der feige, materialistische und dumpfe Aufstand der Verwahrlosten. Da ist der gerechte Kampf einer Jugend, der man die Zukunft verweigern will, und da ist die sinnlose Brutalität von Kids, die nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen haben als den schnellen Kick. Gewiss, so viel werden noch die empörtesten Kommentatoren zugeben müssen: Die tieferen Ursachen für die "guten" wie für die "schlimmen" Aufstände (und wenn die Grenzen einmal nicht mehr so eindeutig sind, wissen wir, wer die Definitionsmacht hat, sie zu ziehen) sind miteinander verwoben.
Wie die alten Diktaturen, so übertreibt es auch der neue Kapitalismus bei der Erzeugung von "überflüssigen Menschen", Menschen, die keine Zukunft aber sehr viel Energie haben. Und so, wie der bürgerliche Aufstand vor allem seine Bürgerlichkeit ausdrückt, drückt der Unterschicht-Riot seine Deplatziertheit aus. Dass man den eigenen Lebensort zerstört, ist nur konsequent, denn so wenig man Zukunft hat, so wenig hat man hier "Heimat".
Die moralische Empörung des bürgerlichen Aufstandes und die Energie der sozialen Revolte sind erst gemeinsam wirklich gefährlich. Doch so weit entfernt voneinander wie derzeit waren sie wohl noch nie. Nicht zuletzt, weil sich ein Bild zu festigen beginnt: Die Unterschicht des Neoliberalismus ist monströs, und sie hat offenbar kaum ein anderes "Klassenbewusstsein" als den Genuss dieser Monstrosität. Für den konservativen europäischen Mainstream ist die neue Unterschicht unerträglich, weil es sich für sie nur um ein "Anspruchsdenken" ohne "Leistungsbereitschaft" handelt.
Monströse Unterschicht
Das vielleicht Neue an der Unterschicht im Neoliberalismus ist eine ganze eigene Konsumkultur: Fernsehprogramme von erlesen schlechtem Geschmack, Überfluss von Nippes aus dem 1-Euro-Laden, Produktlinien der Ghettotextilien, das obligatorische Kapuzen-Outfit der Kids, die nur respektiert werden, wenn sie "böse" sind, und das rülpsende Massenentertainment der Eltern, das Herumhängen, spezifische Schnapssorten, eine eigene Sprechweise findet seine mediale Reflexion, sogar so etwas wie einen Unterschicht-Tourismus gibt es.
Wenn man alle Kulturwaren für die neue Unterschicht zusammennimmt, erkennt man eine doppelte Absicht: ein ökonomisches Segment, das dem Staat hilft, an Sozialleistungen zu sparen (diese neue Unterschicht lebt nicht im Mangel, sondern in einem giftigen Überfluss) und das den entsprechenden Konzernen enormen Profit abwirft einerseits, und die Erzeugung eben jener Dumpfheit und Blindheit, die man dann als Argument gegen das Verlangen einsetzt, aus diesem Ghetto herauszukommen.
Ist es nicht unerträglich, jemanden nicht aus Hunger, sondern wegen ein paar Markenartikeln aus der Fernsehwerbung rauben, plündern und sogar töten zu sehen, der vielleicht gerade eine Arbeit ausgeschlagen hat, weil er für die paar Kröten keinen Finger krumm machen will? Der Unterschichtler scheint sich dem Ethos des Kapitalismus so radikal zu verweigern wie er sich seinen Versprechungen und Illusionen unterwirft. Ist aber seine Rücksichtslosigkeit beim Haben-Wollen vom Kuchenstück nicht die direkte Spiegelung der Rücksichtslosigkeit des Bankers?
Bürgerkrieg gegen Plünderer
Aber noch unerträglicher als für das konservative Bürgertum ist die neue Unterschicht für die kritisch-dissidenten Teile des Bürgertums, die "sozialen Bewegungen" allzumal. So sind die allgemeine Lähmung und die eruptiven Riots der Unterschicht so wenig anschlussfähig wie diese Unterschichtkultur. Die Unterschicht im Neoliberalismus ist, bevor man sie als Opfer sieht, in ihrer medialen und öffentlichen Präsenz vor allem Karikatur des Systems. Im schlechten Aufstand plündern die Kids die Läden mit den Markenklamotten, denen der gute Aufstand den moralisch-ästhetischen Kampf angesagt hat.
Nicht minder vorhersehbar sind die Reaktionen in der Mitte. Dem Vater wird die Wohnung gekündigt, weil sein Sohn sich am Riot beteiligt hat. In der moralischen Empörung der Mainstream-Gesellschaft erkennt der Staat die Chance, schon wieder ein paar Elemente des Rechtsstaates über Bord zu werfen. Schon kursieren in England Internetpetitionen, in denen Randalierern das Recht auf Sozialhilfe abgesprochen wird, und dem Staat wirft man allenfalls vor, zu wenig Polizisten zu bezahlen. Kurzum: Es wird so etwas wie ein "Bürgerkrieg gegen den Terror" ausgerufen, und wie im so grandios gescheiterten Krieg gegen den Terror ist auch darin nur eines sicher: Die Produktion neuer Terroristen.
Hätten die "Randalierer" ein ähnliches Ziel wie die Terroristen, die wir als kalte Täter kennen, so hätten sie auch dieses erreicht: das Sichtbarmachen des Hasses in der Gesellschaft, das Sichtbarmachen des Unterschiedes. Die Stärkung der "Zellen" bzw. der Gangs. Es ist ein zweifellos terroristischer Selbstgenuss: Der Erfolg der Randale, neben ein paar am Ende wohl eher bescheidenen Beutestücken, ist das erhebende Gefühl, für ein paar Nächte Angst und Schrecken verbreitet zu haben, für einmal sichtbar geworden zu sein, und womöglich bleibt man es im Bürgerkrieg gegen den Unterschichtterror sogar für eine Weile.
Der schlechte Aufstand ändert die Verhältnisse nicht; er zeigt, wie sie sind. Wer will das schon sehen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen