Von tapferen Türken und Teufeln

Sagen und Legenden sind ein Schlüssel zur Gedankenwelt des Mittelalters, und die Wiener Innenstadt ist von Mythen bevölkert, deren Spuren immer noch zu finden sind. Die Stadt erzählt ihre Legenden. Eine Ausstellung über das magische Wien

VON RALF LEONHARD

Als das Heer Sultan Süleymans im Jahre 1529 der christlichen Zeitrechnung die Stadt Wien belagerte, schlugen die Geschütze eine Bresche in die dicke Stadtmauer. Ein tscherkessischer Reiter galoppierte darauf beherzt durch die Öffnung mitten in die Stadt. Dort wurde er von einem Schuss des Feindes tödlich getroffen. Tags darauf musste die Belagerungsarmee wegen des plötzlichen Wintereinbruchs abziehen. Der österreichische König Ferdinand war von der Tapferkeit des feindlichen Kriegers so beeindruckt, dass er ihn samt Pferd mumifizieren und an der Stelle seines Todes aufstellen ließ. Dort steht er noch heute.

So erklärt eine türkische Erzählung die Entstehung des Namens Heidenschuss in Wien. Als die Türken 1683 neuerlich die Stadt belagerten, deren Fall ihnen den Weg nach Zentraleuropa geebnet hätte, fertigten sie einen Stadtplan an, auf dem drei wichtige Gebäude eingezeichnet sind: der Stephansdom, Symbol der geistlichen Macht, die Hofburg, wo inzwischen der Kaiser residierte, und ein Gebäude mit grünem Dach und minarettartigem Turm, das als Heidenschuss vermerkt ist: ein Mahnmal für türkische Heldentaten.

Der Plan ist ein Beweisstück für die Kraft von Legenden. Denn ein derartiges Bauwerk gibt es in Wien nicht, vielmehr ist der Heidenschuss eine Hausecke, die heute von der Skulptur eines türkischen Reiters mit Turban und Krummsäbel geziert wird. Ganz in der Nähe verlief die mittelalterliche Stadtmauer. Ursprünglich stand dort allerdings kein Türke, sondern ein steinerner Mann mit Pfeil und Bogen. Vermutlich zur Warnung an die Bürger, dass jenseits der Mauer Gefahr lauerte.

In der mittelalterlichen Stadt, die nach dem Vorbild des kreisrund gedachten Kosmos angelegt war, hatten die Straßen keine Namen. Vielmehr war jedes Haus durch ein Zeichen oder eine Figur identifizierbar. Nur wenige der ursprünglichen Zeichen sind erhalten geblieben, von den Namen überleben aber viele bis heute, sei es als Platzbenennungen oder als Ursprung für eine Legende. Aber auf dem ersten überlieferten Stadtplan von Wien, den der Nürnberger Kupferstecher Augustin Hirschvogel 1547 nach exakten Vermessungen anfertigte, sind solche Häusernamen nachzulesen: „Zum pladen Hecht“, „Schabnrüssl“, „do der haidn schießt“, „Küsnpfennig“.

Der Name „Küss den Pfennig“ wird mit der Magie des Paracelsus erklärt. Der berühmte Arzt soll um 1530 bei einem Besuch in Wien seine Zeche mit einem Pfennig bezahlt haben, der sich in der Hand des Wirtes in einen Goldtaler verwandelt haben soll. Der Wirt habe die Münze daraufhin unzählige Male geküsst.

Die Wiener Innenstadt, deren Ursprung auf das Römerlager Vindobona zurückgeht, ist dicht von Mythen bevölkert, von denen die meisten lokalisierbar sind. Im Mittelalter war die Grenze zwischen Magie und Wissenschaft fließend. Unerklärbare Phänomene wurden mit Geistern und Fabelwesen in Zusammenhang gebracht. Ein Pakt mit dem Teufel diente als gängige Erklärung für plötzlichen Reichtum oder herausragende handwerkliche Leistungen. In den barocken Geschichtsbüchern wurde zwischen gesicherten Fakten und sagenhaften Begebenheiten nicht unterschieden. Spätestens in der Volksschule hören Wiener Kinder die Sagen vom Basilisken, vom Donauweibchen, vom lieben Augustin oder der Spinnerin am Kreuz. Von den meisten gibt es unzählige Varianten, die während der Romantik im 19. Jahrhundert oft um eine Liebesgeschichte bereichert wurden. Noch heute spricht die Stadt zum Besucher. Allenthalben trifft man auf Denkmäler, Bilder, Straßennamen, deren Sinn sich zwar nicht jedem erschließt, die aber Geschichten erzählen.

Die Ausstellung „Magische Orte – Wiener Sagen und Mythen“, die Anfang Mai eröffnet wurde, will diese kryptischen Zeichen entziffern helfen. Da liegt zum Beispiel ein Stück Mammutknochen, das im Jahre 1443 dort gefunden wurde, wo sich das Haupttor der gotischen Stephanskirche öffnet. Die mittelalterlichen Finder waren überzeugt, das prähistorische Bein könne nur von einem Riesen stammen. Das ist eine der Deutungen, warum der Haupteingang Riesentor genannt wird.

Der Stephansdom, heute im Zentrum Wiens, lag ursprünglich in einem heiligen Bezirk außerhalb der Stadtmauern. Dass der heilige Bezirk besonders dicht von Teufeln bevölkert sein soll, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. „An fast allen magischen Orten treffen einander Heiliges und Dämonisches“, schreibt die Kuratorin Reingard Witzmann.

Der Teufel versuchte nicht nur den Bau des Doms zu verhindern, er ist auch schuld, dass der Nordturm nie fertig gebaut wurde. Und auch der Stock im Eisen, ein in die Ecke des gegenüberliegenden Palais Equitable eingelassener Fichtenstamm, der über und über mit Nägeln gespickt ist, soll auf einen Pakt zurückgehen, den ein Schmiedegesell mit dem Teufel schloss.

Für die Ausstellung wurden Originalstücke, Gemälde, Stadtpläne und Fotografien zusammengetragen, die in das Universum des mythischen Wien einführen. Die wichtigsten Sagen dienen dabei als roter Faden. Nur wenige sind mit einem festen Datum verbunden, wie die Geschichte vom Basilisken im Brunnen des Bäckers, die 1212, kurz nach der Stadtgründung, spielt, oder die im Pestjahr 1679 angesiedelte Legende vom lieben Augustin. An den Basilisken, jenes grässliche Ungetüm, das eine Kröte aus einem Hahnenei gebrütet hat und das allein durch seinen Anblick tötet, glaubten die Wiener bis ins späte 19. Jahrhundert, als der Wiener Stadtrat Eduard Suess das tödliche Phänomen als Schwefelwasserstoff erklärte, der austritt, wenn beim Graben eines Brunnens die Sandsteinlage durchstoßen wird.

Die Ausstellung „Magische Orte. Wiener Sagen und Mythen“ ist bis 21. November 2004 in der Hermesvilla im Lainzer Tiergarten zu Wien zu sehen