piwik no script img

Archiv-Artikel

„Ich bin kein Staatsanwalt“

Ein Vehikel, um miteinander zu reden: Thomas Heise versucht in „Mein Bruder – We’ll meet again“ (Forum) zu zeigen, warum sein Bruder mit einem Freund zusammenlebt, der ihn als IM bespitzelt hat

INTERVIEW STEFAN REINECKE

taz: Herr Heise, Sie haben einen Film über Ihren Bruder gemacht. War das anders, als mit Unbekannten zu drehen?

Thomas Heise: Ich kenne meinen Bruder länger. Das ist ein Unterschied.

Aber Sie sind Ihrem Bruder gegenüber loyaler?

Ich bin allen Leuten gegenüber, mit denen ich drehe, loyal. Hier aber waren Verletzungsmöglichkeiten vor und hinter der Kamera größer als sonst.

Sie sind direkt involviert ins Geschehen. Ihr Bruder wohnt bei Micha, einem guten Freund von ihm, in Südfrankreich. Micha hat als IM für die Stasi gearbeitet, Ihren Bruder und auch Sie verraten. Sie sind Teil des Spiels, das Sie darstellen.

Das klingt mir zu kompliziert. Der Film ist erst mal simpel. Er beginnt mit dem Satz: „Ich wollte mit dir über Micha reden.“ Genau das passiert. Es wird über Micha geredet. Und dann stellt sich heraus, dass diese beiden Brüder, wir, zum letzten Mal miteinander geredet haben, als unser Vater starb. In dem Film reden wir zum zweiten Mal miteinander. Die Micha-IM-Geschichte ist ein Vehikel für uns, um miteinander zu reden.

Es geht um Selbsterfahrung?

Das Wort finde ich nicht verwendbar.

um eine persönliche Erfahrung …

Ohne Offenheit für Erfahrungen entsteht kein Film. Ich glaube nicht an Filme, bei denen man schon vorher weiß, was am Ende herauskommen wird. Auch wenn viele Filme heute so gemacht werden: Man benennt ein Problem und castet Protagonisten, die zu dem Problem passen. Das langweilt mich.

Wie arbeiten Sie?

Wenn mich Leute interessieren, mache ich einen Film über sie, um mehr von ihnen zu erfahren. Ich habe am Anfang keine These.

Der Film zeigt zuerst die sozialen Beziehungen: Ihren Bruder, seine Freundin, die er in dem Dorf kennen lernt, Yvonne, die Frau von Micha, die Kinder. Alles ziemlich hippiemäßig. Es geht um Ficken, Trinken, Essen, Kochen, Rauchen, Kiffen und darum, wie man lebt. Das sind die erzählerischen Kreise, dann kommt der Showdown: das Verhör von Micha über seine IM-Geschichte.

Nein, das ist kein Verhör.

Sondern?

Es war kein Gespräch. Ich habe keine Frage gestellt. Micha hat von alleine angefangen zu reden, weil er etwas loswerden wollte.

Man erfährt nicht viel Informationen in diesem Monolog. Zum Beispiel nicht, warum er IM wurde.

Stimmt nicht. Man muss genau hinhören. Ein Grund war ein diffuses Schuldgefühl gegenüber dem Staat. Das sagt er. Und über mich sagt Micha: „Der brauchte doch bloß seinen Papa fragen, dann durfte der in den Westen.“ Das ist Quatsch – deutet aber ein Motiv an: Neid.

Finden Sie Michas Erklärung in Ordnung?

Ich kann das schlecht bewerten. Es ist für den Verratenen nahe liegend, selbstgerecht zu sein. Das will ich nicht. Ich glaube, eigentlich will er sagen: „Es war Scheiße, aber es ist vorbei. Jetzt lass uns einen saufen.“ Das kriegt er aber nicht hin.

Michas Monolog enthält keine Reflexion der eigenen Rolle, seiner Motive, des doppelten Bewusstseins als IM. Er zeigt eigentlich nur Hilflosigkeit.

Genau. Und das ist seine Leistung. Er zeigt, dass er nicht darüber reden kann. Er tut es trotzdem. Damit macht er sich verletzlich.

Müsste man nicht verlangen, dass IMs ihre Rolle reflektieren?

Mit welchem Recht soll ich das verlangen? Ich bin kein Staatsanwalt. Und was wäre denn gewonnen, wenn Micha seine Motive darlegen könnte – außer, dass er sich hinter solchen Selbstanalysen wahrscheinlich sehr geschickt verstecken würde.

Das heißt, Kommunikation gibt es eher im Schweigen?

Ja, schon. Reflexion mag für manche sinnvoll sein. Für mich klingt das zu therapeutisch. Damit kann ich als Dokumentarfilmer nichts anfangen. Zu „Stau“, dem Porträt von rechten Jugendlichen, hat eine Kommission erklärt, der Film sei mangelhaft, weil er mit den Figuren nicht auf Veränderung hinarbeite. Eine therapeutische Vorstellung von Dokumentarfilm: Gute Menschen zeigen Probleme auf und lösen sie am besten noch.

Läuft man, wenn man auf Reflexion verzichtet, nicht Gefahr zu verdrängen?

Glaube ich nicht. Der Film ist voll mit angerissenen, mit nicht zu Ende geführten und halben Sätzen. Das sagt mehr über eine Person als die Information, die ich aus Akten filtern kann. Oder Selbstreflexionen.

Das Sprechende sind also die Pausen?

Ja. Mir ist aufgefallen, dass ich noch nie in einem Film so viel gestottert habe. Ich habe Micha gefragt: „Wie kommt ein Name zustande, der heißt Marcel Black.“ Das ist der IM-Name von Micha. Solche Fehler zeigen, dass etwas nicht mehr funktioniert.

Sind Sie wütend auf Micha wegen des Verrats?

Ich war es früher. Er hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung und hat das auch für seine IM-Berichte genutzt. Wenn jemand deinen intimen Sachen ausforscht – dann ist das Verrat. Aus der Distanz finde ich heute aber, dass es weniger um Verrat als um Petzen ging. Ich habe Michas Berichte gelesen. Eigentlich steht da immer drin: Alle im Prenzlauer Berg sind bescheuert, nur ich bin toll. Es geht um Selbsterhöhung.

Sie hegen keinen Groll mehr?

Nein. Was mich heute stört, ist, dass die Stasi-Sache heute noch so wichtig ist. Ich muss mich damit noch immer beschäftigen. Das macht mich sauer.

„Mein Bruder“ verbindet zwei Topoi: Stasi und Familie. Obwohl er in Frankreich spielt, ist „Mein Bruder“ ein DDR-Film. Die DDR hatte ja etwas Familiäres …

Naja, die Bundesrepublik kommt mir auch familiär, ausschließend gegen Andere vor.

Andreas sagt über Michas Verrat: So war es halt. Der Verräter gehört dazu. Egal, was passiert, man gehört zusammen. Wie in einer Familie.

Da ist etwas dran. Andreas und Micha funktionieren wie Brüder. Inklusive des Harmoniebedürfnisses.

Das ist doch typisch DDR?

Ich bin da skeptisch. Die DDR schrumpft immer mehr zu ein paar Produktmarken und ein paar Interpretationsstandards. Es war komplexer.