Das war die Bundestagswahl 2021

Kleine werden größer, viele Frauen wählen grün. Junge Liberale werden ­Wahlgewin­ne­r:in­nen und ein Vertreter der dänischen Minderheit zieht in den Bundestag ein. Dagegen verliert die Linke, während die AfD an ihre Grenzen stößt

Ort des Geschehens – das Berliner Regierungsviertel Foto: Paul Langrock

Die Linke verliert an alle, vor allem an die SPD

Wählerwanderung bei der Bundestagswahl 2021

Das desaströse Ergebnis der Linkspartei, die bundesweit unter 5 Prozent geblieben ist, kommt nicht von ungefähr. Verloren hat sie ausnahmslos in alle Richtungen – am stärksten ins Nichtwählerlager, an die Grünen, vor allem aber an die SPD. Diese Abwanderung könnte dafür sprechen, dass die So­zi­al­de­mo­kra­t*in­nen fast zwanzig Jahre nach der Einführung von Hartz IV Vertrauen in Sachen Sozialer Gerechtigkeit zurückgewonnen haben, und das ausgerechnet mit dem Agenda-Politiker Scholz als Spitzenkandidat.

Vielleicht hat die Zeit einige Wunden geheilt. Außerdem hat die SPD mit ihrem neuen Sozialstaatskonzept aus dem Jahr 2019 aktive Reue geleistet. Im Wahlkampf hat sie einen Mindestlohn von 12 Euro gefordert, nur ein Euro weniger als die Linke. Laut Infratest Dimap schreiben die Befragten den So­zi­al­de­mo­kra­t*in­nen in diesem Bereich eine deutlich höhere Kompetenz zu – weil sie der Linken nicht zutrauen, in Regierungsverantwortung zu kommen und ihr Programm in einen Koalitionsvertrag einfließen zu lassen? Wenn die inhaltlichen Unterschiede schwinden, die Wäh­le­r*in­nen die Umsetzung aber der SPD viel eher zutrauen als der Linken, stellt sich für Letztere in Zukunft eine existenzielle Frage: Wozu überhaupt noch eine Partei links von der Sozialdemokratie? Tobias Schulze

Direktmandate gehen nicht mehr nur an die Großen

Zwei Parteien haben bei den Direktmandaten deutlich zugelegt: die AfD und die Grünen. Die Rechten gewannen 2017 erstmals drei Wahlkreise, diesmal sind es schon 16 – alle davon in Ostdeutschland, die meisten in Sachsen. Die Grünen, die beim letzten Mal nur ein Direktmandat in Berlin (Friedrichshain-Kreuzberg, der ehemalige Ströbele-Wahlkreis) holten, gewannen ebenfalls 16 Wahlkreise. Noch vor ein paar Monaten, während ihres Umfragehochs, hatten sie sich zwar noch ein bisschen mehr erhofft, die Verteilung der gewonnenen Wahlkreise zeugt aber auch so von einer verstärkten gesellschaftlichen Verankerung, über einzelne Regionen hinaus.

Gewinnen konnten die Grünen im Süden, Westen und Norden. Nur im Osten, abgesehen von Berlin, sind sie von Platz 1 selbst auf Wahlkreis­ebene weit entfernt. Die überwiegende Mehrheit der Direktmandate gab es freilich in Städten. Cem Özdemir in Stuttgart ist einer der prominentesten Sieger, dazu kommen unter anderem ein Mandat in München, drei in Berlin, je eins in Frankfurt am Main, Köln, Münster und dem Laschet-Wahlkreis Aachen. Besonders bemerkenswert ist allerdings das Direktmandat für Robert Habeck im vergleichsweise ländlich geprägten Wahlkreis Flensburg-Schleswig. Dieses ging bisher stets zuverlässig an SPD oder CDU. Tobias Schulze

Die AfD etabliert sich und stößt an ihre Grenzen

Wählerwanderung bei der Bundestagswahl 2021

Bei Bundestags- und Landtagswahlen der vergangenen Jahre hatte häufig die AfD vom Anstieg der Wahlbeteiligung profitiert. Sie schaffte es, Menschen zu mobilisieren, die zuvor aus Frust nicht oder nicht mehr zu Wahlen gegangen waren. Dieser Trend ist vorbei. Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich zu 2017 zwar erneut leicht gestiegen, von 76,2 Prozent auf jetzt 76,7, das Ergebnis der AfD hat sich allerdings verschlechtert. Stimmen verloren haben die Rechtspopulisten netto an alle Parteien außer der Linken – und erstmals auch wieder in großer Zahl ins Nichtwählerlager: Über 800.000 ehemalige AfD-Wähler*innen haben dieses Jahr nicht wieder abgestimmt. Vier Jahre zuvor hatte die AfD aus diesem Lager netto noch knapp 1,5 Millionen Stimmen gewonnen.

Das maximale Potential der Partei, zumindest unter aktuellen Umständen, war bei der Wahl 2017 offenbar erreicht, steigt nicht weiter an und konnte auch nicht wieder voll mobilisiert werden. Heißt umgekehrt aber auch: Verschwinden wird die AfD so schnell nicht mehr. Sie hat mittlerweile eine durchaus stabile Stammwählerschaft. Regional hat sie sich sogar als stärkste Kraft etabliert, holte auch durch die Schwäche der CDU in Sachsen und Thüringen viele Direktmandate und im Osten insgesamt über 20 Prozent. Tobias Schulze

Die Kleinen werden größer: Deutlicher Zuwachs für die „sonstigen Parteien“

In Bayern sind sie seit 2018 Teil der Landesregierung, in Rheinland-Pfalz haben sie es im März in den Landtag geschafft.

Mit dem Einzug in den Bundestag hat es für die Freien Wähler jedoch auch im dritten Anlauf nicht geklappt – obwohl die Partei ihr Ergebnis im Vergleich zu 2017 mehr als verdoppeln konnte: 2,4 Prozent der Zweitstimmen erlangten die Freien Wähler, ein Plus von 1,4 Punkten. Damit sind sie bei der Bundestagswahl die größte der sogenannten kleinen Parteien – die insgesamt deutliche Gewinne verzeichneten: In der Summe entfielen 8,6 Prozent der Zweitstimmen auf die „Sonstigen“, nach 5 Prozent bei der Bundestagswahl 2017.

Unter anderem erhielt die aus dem „Querdenken“-Milieu hervorgegangene Partei Die Basis auf Anhieb rund 600.000 Zweitstimmen und kam damit auf 1,4 Prozent. Jürgen Todenhöfer und sein gleichnamiges „Team“ dürfen sich über 0,5 Prozent der Zweitstimmen und damit voraussichtlich auf Geld aus der Parteienförderung freuen. Hanno Fleckenstein

Stefan Seidler vertritt die dänische und friesische Minderheit im neuen Bundestag

Große Freude im Flensborg Hus: Stefan Seidler zieht als fraktionsloser Abgeordneter für den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) in den Bundestag ein. Der Flensburger gehört der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein an und war als Spitzenkandidat des SSW angetreten.

Die Partei vertritt die Interessen der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen und ist als Partei einer nationalen Minderheit von der 5-Prozent-Hürde ausgenommen. Deshalb reichten Stefan Seidler und dem SSW rund 55.300 Zweitstimmen für ein Mandat. Mit Seidler sitzt erstmals seit fast 70 Jahren wieder ein Vertreter des SSW im Bundestag. Auf Landesebene ist die Partei seit Langem eine feste Größe und im Landtag wie in mehreren Kommunalparlamenten vertreten. Der 41-jährige Seidler, der bislang als Dänemark-Koordinator der Landesregierung von Schleswig-Holstein tätig war, will im Bundestag für „skandinavische Lösungswege“ werben und sich auch für andere Minderheiten, etwa die Sorben, einsetzen.

Hanno Fleckenstein

SPD und Grüne bei Frauen stärker

Wählerwanderung bei der Bundestagswahl 2021

Erdrutschartig anders würde die Zusammensetzung des neuen Bundestags nicht aussehen, wären nur Frauen wahlberechtigt. Während SPD und Grüne bei Frauen aber etwas stärker abschneiden als bei Männern, holen AfD und FDP bei den Männern mehr Stimmen. Union und Linkspartei liegen bei den Geschlechtern nahezu gleichauf.

Wie viele Männer und Frauen im Bundestag sitzen werden, wurde noch nicht ausgezählt – aber es gibt übereinstimmende Prognosen. Der bisherige Bundestag hatte mit knapp 31 Prozent einen so niedrigen Frauenanteil wie seit 20 Jahren nicht. Laut der Wahlforschungsinstitute wird der Anteil nun auf 35 bis 36 Prozent steigen. Damit verfehlen die Männer noch immer nur knapp die Zweidrittelmehrheit.

Eine historische Premiere hinsichtlich der Geschlechterverteilung gibt es aber: Zum ersten Mal ziehen zwei offen trans lebende Frauen in den Bundestag ein. Tessa Ganserer hat ihren Platz über die Landesliste der bayerischen Grünen sicher, Nyke Slawik zieht über die grüne Landesliste in NRW ein. „Mich haben mittlerweile Glückwünsche aus Polen, UK und den USA erreicht. Unser Wahlerfolg geht um die Welt“, twitterte Slawyk. „Ich hoffe, dass wir heute ein neues Kapitel der Selbstbestimmung in der Politik aufschlagen.“Patricia Hecht

Zwischenstand getwittert

„Die letzten Stimmen bitte jetzt noch an uns #FREIEWÄHLER!“: Auf den ersten Blick ein wenig verfänglicher Satz, den der Bundes- und bayerische Landesvorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, gestern gegen 16 Uhr auf Twitter postete. Doch Aiwanger veröffentlichte in seinem Wahlaufruf vorläufige Prognosen eines Umfrageinstituts. Das ist bis zur Schließung der Wahllokale um 18 Uhr verboten, denn mit Zwischenständen können Wahlen beeinflusst werden. Zwar verschwand der Tweet kurz darauf. Aus der Welt ist die Info dadurch natürlich nicht. Was der FW-Vorsitzende nun als „Missgeschick“ bezeichnet, könnte teuer für ihn werden: Der Bundeswahlleiter prüft, ob Aiwanger mit seinem Post gegen das Bundeswahlgesetz verstoßen hat. Falls ja, droht ihm eine Geldstrafe von bis zu 50.000 Euro. „Eines stellvertretenden Ministerpräsidenten unwürdig“, urteilte Aiwangers Chef in der bayerischen Landesregierung, Ministerpräsident Markus Söder (CSU), in einer Gremiensitzung am Montagmorgen.

Hanno Fleckenstein

Mitte-links ist das neue Mitte-rechts

Wer profitiert von den großen Verlusten der Union? Die Stimmen der Union, deren Wählerschaft sich in absoluten Zahlen fast halbiert hat, wanderten zum größten Teil nicht innerhalb des Mitte-rechts-Lagers zu FDP oder Freien Wählern (und darüber hinaus auch nicht zur AfD), sondern lagerübergreifend an SPD (netto rund 2 Millionen) und Grüne (rund 1 Million). Allein an den niedrigen Zustimmungswerten von Armin Laschet beziehungsweise den hohen von Olaf Scholz kann das kaum liegen.

Ist die Verschiebung stattdessen auch Ausdruck eines in den vergangenen Jahren veränderten Zeitgeistes? Selbst konservative Öko­no­m*in­nen zeigen sich mittlerweile offen für kreditfinanzierte Investitionen. Die Coronakrise hat die Notwendigkeit einer belastbaren staatlichen Infrastruktur aufgezeigt. Und sehr wahrscheinlich zahlt auch die gestiegene Bedeutung der Klimapolitik stärker links der Mitte ein als rechts von ihr. So oder so lässt sich eines feststellen: Diejenigen Wähler*innen, die Angela Merkel über die Jahre aus den verschiedenen Lagern hinter sich sammeln konnte, sind nach dem Ende ihrer Ära nicht bei der Union geblieben. Ach ja, und auch nicht zu vernachlässigen: CDU/CSU sterben die Wäh­le­r*in­nen weg. 1,1 Millionen von ihnen sind seit der letzten Wahl verschieden, so viele wie bei keiner anderen Parteien. Tobias Schulze

Erst­wäh­le­r:in­nen bevorzugen FDP

Wählerwanderung bei der Bundestagswahl 2021

Die Jungen Liberalen sind einer der großen Wahlgewinner. Nicht nur, weil sieben von ihnen neu in den Bundestag einziehen und sie ihren Einfluss in der künftigen FDP-Fraktion damit vervielfachen, von vier auf elf Abgeordnete unter 35 Jahre. Die JuLis haben auch für ordentlich Stimmenzuwachs in ihrer Altersgruppe gesorgt. Bei den Wäh­le­r:in­nen unter 30 Jahren hat dieses Mal je­de:r Fünfte für die FDP gestimmt – 2017 waren es 13 Prozent. Nur die Grünen haben bei der jetzigen Bundestagswahl in der Altersgruppe leicht besser abgeschnitten. Bei den Erst­wäh­le­r:in­nen landet die FDP mit 23 Prozent sogar auf Platz eins – vor Grünen (22), SPD (15), Union (10), Linken (8) und AfD (7).

„Das Ergebnis zeigt, dass die Jugend nicht nur Fridays for Future ist“, sagt Laura Schieritz, stellvertretende Bundesvorsitzende der JuLis, der taz. Für viele junge Menschen seien die letzten anderthalb Jahre wegen Corona von Verzicht geprägt gewesen. In einer repräsentativen Umfrage der Generationen Stiftung kurz vor der Wahl gaben über 80 Prozent der 16- bis 26-Jährigen an, die Regierung habe ihre Interessen „ignoriert“. Diesen Frust hat die FDP mit ihrer Freiheitsrhetorik abgeschöpft – auch unter minderjährigen Schüler:innen. Bei den sogenannten Juniorwahlen konnte die FDP ihre Stimmen sogar verdoppeln. In dieser Altersstufe liegen die Grünen aber noch ein paar Prozentpunkte vorne. Ralf Pauli

(Nicht nur) Klima war wichtig

Die Stimmverteilung gibt es nicht eins zu eins wieder, eine Klimawahl war diese Bundestagswahl aber durchaus. Der Forschungsgruppe Wahlen zufolge bezeichneten 46 Prozent der befragten Wäh­le­r*in­nen Klimaschutz und Umwelt als größtes Problem. Das kann erklären, warum die Grünen, denen in diesem Bereich die größte Kompetenz zugeschrieben wird, merklich zugelegt haben. Warum es trotzdem nicht für mehr als 15 Prozent gereicht hat? Erstens ist das wichtigste Thema keineswegs das einzige wichtige Thema und bei der Kompetenzzuschreibung in Bereichen wie sozialer Gerechtigkeit oder Flüchtlingspolitik hinken die Grünen hinterher. Sie werden offenbar weiterhin zu sehr als Ein-Themen-Partei wahrgenommen. Zweitens werden die schlechten persönlichen Werte von Annalena Baerbock eine Rolle gespielt haben. Und drittens wohl auch, dass viele Wäh­le­r*in­nen trotz Problembewusstseins einen Klimaschutz bevorzugen, der ihnen kurzfristig keine zu großen Belastungen abverlangt. Tobias Schulze