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Zahlen aus der WissenschaftMeinungsstark und faktenschwach

Das ifo-Institut hat Wirtschaftsprofessoren zum Kohle-Ausstieg befragt. Deren Antworten zeigen vor allem eins: dass viele von ihnen vom Thema wenig verstehen.

Beim Thema Kohle ist es nicht immer einfach, den Durchblick zu behalten Foto: Christian Mang

Berlin taz | Dass man es mit Zahlen und Fakten nicht sonderlich genau nehmen muss, um mit einer starken Meinung in die Öffentlichkeit zu gehen, haben die berühmten 107 Lungenärzte kürzlich ja eindrücklich bewiesen. Doch auch in anderen Disziplinen gibt es eine Tendenz, sich zu Themen zu äußern, bei denen man die aktuelle Debatte offensichtlich nicht wirklich verfolgt.

So hat das Münchener ifo-Institut am Dienstag eine Umfrage unter 143 deutschen Wirtschaftsprofessoren veröffentlicht, die sich zum Kohleausstieg äußern. Den sehen die Ökonomen überwiegend skeptisch: So sind 42 Prozent der Befragten der Meinung, dass durch den deutschen Kohleausstieg die CO2-Emissionen in Europa nicht sinken werden. Auch Professor Niklas Potrafke, Leiter des ifo-Zentrums für öffentliche Finanzen und politische Ökonomie, sieht das so: „Wenn sich an den Zertifikaten zur CO2-Emission in der EU nichts ändert, werden andere Länder vermutlich mehr ausstoßen“, sagt er zur Begründung.

Eigentlich ist das ein guter Punkt: Wenn durch nationale Einsparmaßnahmen in einem Land CO2-Zertifikate frei werden und mit diesen dann der Ausstoß in anderen Ländern steigt, bringen nationale Maßnahmen tatsächlich nicht viel. Das hat aber mittlerweile auch die EU gemerkt – und die Regeln darum geändert: Nationalstaaten können künftig eine entsprechende Menge an CO2-Zertifikaten löschen, wenn sie Kraftwerke stilllegen.

Die Kohlekommission empfiehlt ein solches Vorgehen in ihrem Abschlussbericht (in diesem pdf auf Seite 75) ausdrücklich. Und Zweifel daran, dass das passieren wird, sind unbegründet. „Natürlich werden wir von dieser Möglichkeit Gebrauch machen“, sagt ein Sprecher von Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD).

Dass das ifo-Institut sich mit merkwürdigen Äußerungen gegen die Energiewende positioniert, ist nicht neu

Doch nicht nur in diesem Punkt belegt die Umfrage des ifo-Instituts vor allem, dass deutsche Wirtschaftswissenschaftler die aktuellen Entwicklungen in der Klimapolitik nicht verfolgen. Auch ihre Erwartungen zur künftigen Strompreisentwicklung zeigen eine gewisse Distanz zur Realität.

Erstaunlich ist dabei nicht, dass 65 Prozent der befragten Professoren aufgrund des Kohleausstiegs mit steigenden Strompreisen rechnen. Sondern in welcher Höhe sie diese erwarten: 19 Prozent glauben an einen Anstieg bis zu 10 Prozent; 28 Prozent erwarten einen Anstieg von 11 bis 25 Prozent, 15 Prozent gehen von Preissteigerungen von 26 bis 50 Prozent aus, und 3 Prozent erwarten sogar, dass die Preise um mehr als 50 Prozent steigen.

Prognosen nicht nachvollziehbar

Zur Einordnung hilft ein Blick auf Zahlen des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Der warnt ebenfalls vor steigenden Strompreisen durch den Kohleausstieg und steht nicht im Verdacht, diese kleinzurechnen. Der BDI erwartet, dass der Strompreis an der Börse durch den Kohleausstieg bis zum Jahr 2030 um 0,4 Cent pro Kilowattstunde steigt. Im denkbar ungünstigsten Fall wären auch 1,4 Cent möglich. Für private Verbraucher würde das einen Preisanstieg um knapp 5 Prozent bedeuten, für die Industrie im Schnitt um 8 Prozent.

Dass das ifo-Institut sich mit merkwürdigen Äußerungen gegen die Energiewende positioniert, ist übrigens nicht neu. Der ehemalige Präsident des Instituts, Hans Werner Sinn, meinte schon 2015, die deutsche Energiewende habe „das mögliche Maß erreicht“. Seitdem ist der Anteil der erneuerbaren Energien im deutschen Strommix von 27 auf 38 Prozent gestiegen.

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11 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Überzogene Kritik an den Wirtschaftswissenschaftlern. z.B

    "Nationalstaaten können künftig eine entsprechende Menge an CO2-Zertifikaten löschen, wenn sie Kraftwerke stilllegen."



    Die Zertifikate könnten sicherlich auch ohne gesetzliche Regelung einer gleichzeitigen Stillegung von Kraftwerken gelöscht werden. Das Argument zieht also schon mal nicht.

    Steigende Strompreise: Da wäre die genaue Fragestellung von Interesse, falls es eine genaue Frage gab. Ging es um Verbrecherpreise inkl. Abgaben oder um Großhandelspreise? Ging es um die erwartete Preiserhöhung oder um die ausschließlich durch eine bestimmte Maßnahme bewirkte Steigerung? Wurde nach Kosten oder nach Preisen gefragt? Was ist der Referenzfall? Nachdem es auch ohne das Kohleausstiegsgesetz durch wirken des Emissionshandels zu Kohlestillegungen kommen würde, ist ja klar, dass das auch keine größeren Preissteigerungen zur Folge hat.

    • @meerwind7:

      präziserer Schluß:



      "ist ja klar, dass die gesetzlich angeordnete Kraftwerksstillegung auch keine größeren Preissteigerungen zur Folge hat", als wenn die Kraftwerke durch Marktkräfte geschlossen werden.

      Und die Entschädigungen für die Kraftwerke, die bei einem Kohleausstieg ohne Kohleausstiegsgesetz (sondern durch die Wirkung der Marktkräfte) sowieso nichts mehr wert wären, soll ja der Steuerzahler übernehmen, die gehen also nicht in den Strompreis ein (sind aber durchaus Kosten des Ausstiegsgesetzes für den Steuerzahlen).

  • 8G
    83421 (Profil gelöscht)

    Der Strompreis ist von 2002 bis 2019 von 16,1 auf 30,5 Cent/kWh gestiegen. 54% des heutigen Preises sind Steuern, Abgaben und Umlagen. Wenn man jetzt noch die Kohleverstromung durch weitere Abgaben verteuern will, wird es fuer die Verbraucher, vor allem aber fuer die Industrie eng. Man haette halt nicht aus der CO2-freien Kernenergie aussteigen sollen. So oder so sollte jedem klar sein, dass die deutsche ''Energiewende'' Unsinn hoch 3 ist. Man muss sich nur einmal in der Welt umsehen: allein in China und Russland sind ueber 300 Kernkraftwerke im Bau bzw. in der Planung.

    • @83421 (Profil gelöscht):

      Ohne Sparen geht es nicht, und Herr Nattermann, auch Atomstron verursacht Kosten – und zwar höhere als anderen Stromarten zusammen. Von gesundheitlichen Problemen, die sich hinter denen des Kohlestroms nicht "verstecken" brauchen, ganz zu schweigen.



      Und weil alle anderen es machen, müssen wir nicht auch…



      Geld kann mensch nicht essen – mal den Kapitalismus hinterfragen…



      Lesen Sie mal bei Greenpeace nach…

      • 8G
        83421 (Profil gelöscht)
        @Frau Kirschgrün:

        Ich halte mich an die Wissenschaft, nicht an Greenpeace.

        • @83421 (Profil gelöscht):

          Und bei Atomkraft ist die Wissenschaft neutral? "Die" Wissenschaft vielleicht schon, es kommt aber noch immer drauf an, woher frauman die Informationen bezieht. Die Atomindustrie hat in vielen Studien die "Pfoten" bis zum Ellenbogen drin oder hat sie gleich selbst geschrieben. Drum prüfe jeder seine Quellen… Zum Theam Endlager gibt es einfach gar keine Lösung – nicht seitens der seriösen Wissenschaft und vom Betreiber schon gar nicht.



          Atomstrom ist bei Einrechnung a l l e r entstehenden Kosten ein Vielfaches teurer als die anderen Stromarten – egal, ob das Greenpeace sagt oder nicht.



          Aber was nicht sein darf, kann natürlich auch nicht sein – schon klar.

  • Jetzt haben sie tatsächlich erkannt, dass über Angebot und Nachfrage die Preise für Kohle sinken, und Konsumanreize setzen.

    Und dann wäre es die Aufgabe der Politik auch die Förderung von Kohle zu drosseln. Also warum den hambacher Forst oder die entsprechenden Braunkohlegebiete im Osten nicht aufgeben? Selbst wenn jemand der Meinung ist, man brauche Kohlekraftwerke, warum dann nicht mit hochwertiger (und höherpreisiger) Steinkohle, am besten noch in Heizkraftwerken, die neben dem Strom im Winter auch Wärmeenergie abgeben. Wir brauchen Reserven, aber das regeln besser kleine lokale Anlagen auf Gasbasis, oder Heizkraftwerke.

  • Hans Werner Sinn; war das nicht der, der seine Horrorszenarien zum Mindestlohn frei erfunden hat?

  • Hans Werner Sinn kann wenigstens hinterher immer erklären, warum er vorher falsch lag. Das ifo-Institut versucht das noch nicht einmal.

    • @PPaul:

      Es hat in Deutschland eine gewisse Tradition, dass in der medialen Öffentlichkeit, insbesondere bei den ÖR, "Experten" zu Wort kommen, die quasi die reine Lehre des Neoliberalismus vertreten und oft nicht über den Erkenntnisstand eines Erstsemesters hinaus gekommen sind. Jetzt kann man sich fragen, ob das Dummheit ist oder einfach nur Gefälligkeits"wissenschaft".



      Gut, dass das einmal problematisiert wird.



      Hochkarätige Ökonomen, die logischerweise im Widerspruch stehen zu den Gefälligkeitsökonomen, kommen höchstens in alternativen Internetplattformen zu Wort.



      Ob Kohleausstieg oder schwarze Null. Wichtige Entscheidungen treffen dann Juristen oder Parteikarrieristen auf der Basis der "Gutachten" einiger Gefälligkeitexperten, die größtenteils das empfehlen, was die konservativ reaktionären Wirtschaftsflügel der Regierungspartei(en) sich vorstellen.

  • Die deutschen Ökonomen sind allgemein berühmt berüchtigt für ihre eigensinnige Bewertung der Realität. Auch ihre nahezu religiöse Hingabe zur Austerität ist im Widerspruch zum Großteil der internationalen Lehrmeinung.