Zahlen aus der Wissenschaft: Meinungsstark und faktenschwach
Das ifo-Institut hat Wirtschaftsprofessoren zum Kohle-Ausstieg befragt. Deren Antworten zeigen vor allem eins: dass viele von ihnen vom Thema wenig verstehen.
So hat das Münchener ifo-Institut am Dienstag eine Umfrage unter 143 deutschen Wirtschaftsprofessoren veröffentlicht, die sich zum Kohleausstieg äußern. Den sehen die Ökonomen überwiegend skeptisch: So sind 42 Prozent der Befragten der Meinung, dass durch den deutschen Kohleausstieg die CO2-Emissionen in Europa nicht sinken werden. Auch Professor Niklas Potrafke, Leiter des ifo-Zentrums für öffentliche Finanzen und politische Ökonomie, sieht das so: „Wenn sich an den Zertifikaten zur CO2-Emission in der EU nichts ändert, werden andere Länder vermutlich mehr ausstoßen“, sagt er zur Begründung.
Eigentlich ist das ein guter Punkt: Wenn durch nationale Einsparmaßnahmen in einem Land CO2-Zertifikate frei werden und mit diesen dann der Ausstoß in anderen Ländern steigt, bringen nationale Maßnahmen tatsächlich nicht viel. Das hat aber mittlerweile auch die EU gemerkt – und die Regeln darum geändert: Nationalstaaten können künftig eine entsprechende Menge an CO2-Zertifikaten löschen, wenn sie Kraftwerke stilllegen.
Die Kohlekommission empfiehlt ein solches Vorgehen in ihrem Abschlussbericht (in diesem pdf auf Seite 75) ausdrücklich. Und Zweifel daran, dass das passieren wird, sind unbegründet. „Natürlich werden wir von dieser Möglichkeit Gebrauch machen“, sagt ein Sprecher von Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD).
Doch nicht nur in diesem Punkt belegt die Umfrage des ifo-Instituts vor allem, dass deutsche Wirtschaftswissenschaftler die aktuellen Entwicklungen in der Klimapolitik nicht verfolgen. Auch ihre Erwartungen zur künftigen Strompreisentwicklung zeigen eine gewisse Distanz zur Realität.
Erstaunlich ist dabei nicht, dass 65 Prozent der befragten Professoren aufgrund des Kohleausstiegs mit steigenden Strompreisen rechnen. Sondern in welcher Höhe sie diese erwarten: 19 Prozent glauben an einen Anstieg bis zu 10 Prozent; 28 Prozent erwarten einen Anstieg von 11 bis 25 Prozent, 15 Prozent gehen von Preissteigerungen von 26 bis 50 Prozent aus, und 3 Prozent erwarten sogar, dass die Preise um mehr als 50 Prozent steigen.
Prognosen nicht nachvollziehbar
Zur Einordnung hilft ein Blick auf Zahlen des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Der warnt ebenfalls vor steigenden Strompreisen durch den Kohleausstieg und steht nicht im Verdacht, diese kleinzurechnen. Der BDI erwartet, dass der Strompreis an der Börse durch den Kohleausstieg bis zum Jahr 2030 um 0,4 Cent pro Kilowattstunde steigt. Im denkbar ungünstigsten Fall wären auch 1,4 Cent möglich. Für private Verbraucher würde das einen Preisanstieg um knapp 5 Prozent bedeuten, für die Industrie im Schnitt um 8 Prozent.
Dass das ifo-Institut sich mit merkwürdigen Äußerungen gegen die Energiewende positioniert, ist übrigens nicht neu. Der ehemalige Präsident des Instituts, Hans Werner Sinn, meinte schon 2015, die deutsche Energiewende habe „das mögliche Maß erreicht“. Seitdem ist der Anteil der erneuerbaren Energien im deutschen Strommix von 27 auf 38 Prozent gestiegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“