Medienhetze gegen Ex-Radprofi Ullrich: Ulle from the block
Jan Ullrich stürzt ab und viele Medien reichen dazu Popcorn. Wilde Spekulationen werden als Skandale verkauft. Nachdenken könnte helfen. Allen.
Seinen größten Triumph, den Sieg der Tour de France 1997, verdankt Jan Ullrich einem Satz: „Quäl dich, du Sau!“ Ein Teamkollege rief ihn Ullrich zu, jagte ihn damit über die Alpen bis zum Sieg. Ullrich quält sich bis heute. Drogen, Alkohol, Autounfälle. Seine größte Krise, meint zumindest der Boulevard, hat er jetzt gerade.
Er soll auf Mallorca beim Nachbarn Til Schweiger randaliert haben und in Frankfurt eine Escort-Dame gewürgt haben. Er saß im Gefängnis und in der Psychiatrie, hat ein Drogen- und Alkoholproblem. Alles nicht schön. Aber was viele Medien daraus machen, ist fast noch schlimmer.
Bild mutmaßt: „Ist Jan Ullrich so kaputt, weil sein Vater gesoffen hat?“, rekonstruiert „Details der Skandal-Nacht im Luxus-Hotel“ und ruft Leser auf, sich zu melden, falls sie Infos über jene Nacht haben. Die Welt am Sonntag beschreibt die „lange Abfahrt des größten Radsportstars in Deutschland“, inklusive detailreicher Berichte von Sauf-Orgien. RTL und Bunte bauschen Gerüchte zu Skandalen auf und die Nachrichtenagentur DPA verrennt sich im Detail: „Ullrich verließ am Freitagabend das Polizeipräsidium durch einen der Ein- und Ausgänge“
Ullrichs Geschichte ist nicht nur „der tiefe Fall“ eines Ex-Sportlers, es ist vor allem der tiefe Fall des Sommerlochs. Das war mit der Unionskrise ungewohnt politisch gestartet, nahm hitzebedingt einen klimapolitischen Schlenker und landete fußballbedingt beim Thema Rassismus. Jetzt aber: Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll. Letzteren meint zumindest die Welt am Sonntag gefunden zu haben, als Ullrich Mallorca verließ: „Er trägt Sonnenbrille, Kapuzenpulli und abgeschnittene Jeans, unter den Knien hat er zwei Bänder. Ein blaues und ein rotes. Es ist der Dresscode von Gangsta-Rappern“. Ulle from the block.
Wie wär`s mal mit Nachdenken, liebe Redaktionen?
Vielleicht ist es auch der Dresscode eines Mannes, dem es miserabel geht und der nicht bei jedem Schritt von Journalisten begleitet werden möchte. Selbst das sonst nicht zu Differenzierung neigende Focus Online schreibt, dass „Ullrichs seelischer und körperlicher Zustand eine Gefahr für ihn selbst und für andere“ gewesen sei. Das könnte der ein oder anderen Redaktion doch Anlass zum Nachdenken geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies