Pränataldiagnostik und Abtreibung: Plötzlich ist da diese Falte im Nacken
In meiner Schwangerschaft zeigen Tests, dass mein Kind wahrscheinlich eine Behinderung haben wird. Nur sicher sagen kann es niemand.
Alles, was ich von meinem Kind noch habe, ist ein Stapel Papier. Zettel mit Telefonnummern, mit Ärztenamen draufgekritzelt, Befunde, Einwilligungen, Broschüren und ein Blatt, auf dem ich „Sammelbestattung“ angekreuzt und meine Kontaktdaten in Druckbuchstaben eingetragen habe. Die Papiere habe ich unterschrieben. Die Mutter gebiert, die Mutter beendet. Auch ein Umschlag ist dabei, braun und fest zugeklebt mit Fotoaufnahmen von 40 Gramm und 14 Zentimetern Leben, abgetrieben, mit einer Tablette, geschluckt mit Medium-Mineralwasser und hochgezogenem Rotz.
Dabei war das alles anders geplant. Ein normaler Kontrolltermin, 11. Woche und ein paar Tage. Wieder einmal sehen, das lebt, was man kaum begreift. Die Ärztin ist eine Urlaubsvertretung und schaut in den Computer. Vor ein paar Wochen hatte ich das Herz schon schlagen gehört. Kaltes Gel, Papierunterlage, nasse Augen. Auch diesmal strecken sich wieder zuckend Arme und Beine in mir aus. Aber plötzlich ist da dieses Wort: „Da sehe ich eine recht große Nackentransparenz.“ An irgendwas erinnert das Wort mich. „Haben Sie schon mal über Pränataldiagnostik nachgedacht? Wie alt sind Sie?“ – „35.“
Beim ersten Kind war ich 30 und wir hatten uns gegen Pränataldiagnostik entschieden. Weil wir nichts entscheiden wollten, was wir nicht hätten entscheiden können. Weil wir nicht drüber nachdenken wollten.
Die Ärztin erklärt, dass sie nicht genügend Erfahrung habe, dass es nichts bedeuten müsse, dass ich überlegen sollte, das abzuklären. Sie misst nach, ohne vorher zu fragen: 5,5 Millimeter. Sie gibt mir das Foto, ohne es in den Mutterpass einzuheften, dazu einen Zettel mit Ärztenamen und Nummer. „Muss nichts bedeuten. Lassen Sie das abklären“, sagt auch die Sprechstundenhilfe und guckt verunsichert.
Der Wind draußen war stark, Äste liegen auf dem Boden. Mein Sohn singt hinten auf dem Fahrradsitz: „Hörst du die Regenwürmer husten?“ Ich schiebe und google „Nackenfalte“. Es fühlt sich unheilbar an. Hatte ich nicht sowieso Zweifel gehabt? Ein zweites Kind will man doch nur, weil man sonst nichts mit seinem Leben anzufangen weiß. Die Stimmungsschwankungen der letzten Wochen können doch nur einen Grund gehabt haben.
„Es stimmt was nicht“
Dieser Text wurde für den Deutschen Reporterpreis 2019 nominiert. Sechs weitere Beiträge, die in der taz erschienen sind, stehen ebenfalls auf der Liste der Nominierten. Hier sind sie alle nachzulesen. Die Entscheidung über die besten Texte fällt am 3. Dezember.
Ich rufe die Ärztenummer an, spreche auf die Mailbox. Nach fünf weiteren Telefonaten – 5,5 Millimeter, ich weiß auch nicht genau, was los ist – habe ich einen Termin in zwei Wochen. Das beruhigt mich. Es gibt Bolognese zum Mittag. Bis das Krankenhaus zurückruft und sagt, dass der Chefarzt mich gleich sehen möchte. Mit diesen Werten. Ich rufe meinen Mann an. Ich versuche, Luft zu kriegen: „Es stimmt was nicht.“ „Ich komme sofort.“ „Musst du nicht.“
Erst mit dem Internet verstehe ich langsam, was gerade zu schnell passiert. „Nackentransparenz ist eine subkutane Flüssigkeitsansammlung im Nackenbereich und tritt zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche auf. Die Flüssigkeit kann noch nicht abgeleitet werden und es kommt zu einer Lymphansammlung.“ Irgendwas bei 2 oder 3 Millimetern ist nicht so viel. Über 5 schon. „Bei einer auffallenden Vergrößerung der Nackentransparenz gilt die Wahrscheinlichkeit verschiedener Fehlbildungen als erhöht.“
Ich fahre ins Krankenhaus. Der Chefarzt riecht nach diesem Parfüm, das man gerade auf allen Vernissagen riechen kann. Der Sohn will nicht draußen warten, er freut sich über das Mini-Baby auf dem riesigen Ultraschallbild, das auf die Wand projiziert wird. „Wie lustig“, sagt er, spielt mit dem Gel und der Arzt sagt: hohe Nackentransparenz. Sagt: vielleicht schwerer Herzfehler, vielleicht Trisomie 21. Sagt: eher ungünstige Prognose. Überlebensfähig? Vielleicht nicht. Und jetzt? Er sagt: Wieder Ultraschall nächste Woche, Fruchtwasseruntersuchung. Im Netz steht: „Eine große Nackenfalte bedeutet nicht zwangsweise, dass Ihr Baby behindert sein wird.“
Wenn man schwanger ist, erzählen einem die Ärzte, man solle nicht darüber reden. Damit man nicht darüber reden muss, wenn das Kind stirbt. Eins von fünf Kindern stirbt in den ersten Wochen, kann man im Netz lesen. Von allein. Und man soll auch nicht darüber reden müssen, wenn man sie sterben lässt. Ich will das nicht. Darüber nicht reden. Weil es falsch ist. Ich muss darüber schreiben, damit man drüber spricht. Natürlich, sagt mein Mann. Wie geht es den anderen? In den Foren lese ich vor allem von Kindern, die trotz schlechter Prognose gesund zur Welt kamen. Ausnahmen, sagt der Arzt.
Am Abend flüstert mein Sohn seinem Vater ein Geheimnis ins Ohr: „Mama hat ein Baby im Bauch.“ Er gibt ihm einen Namen. Verabredet sich mit ihm zum Fußball. „Weißt du, vielleicht ist das Baby nicht gesund.“ Ja, Mama. Mein Mann erzählt von den Jahren, in denen er in einer Gemeinschaft mit Gehandicapten lebte. Es gibt viel zu viele Menschen auf der Welt, warum müssen wir ein krankes Kind bekommen? Vielleicht hat es ja nur vier Zehen, ich kannte mal jemanden mit vier Zehen, dem ging es gut. Ein Kind mit einem halben Arm weniger. Das wäre schön. Oder aber unser Kind bedeutet: Pflege, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Nicht die nächsten drei, sondern vierzig Jahre.
Es darf nicht um die Bewertung gehen, ob das Leben des Kinds lebenswert ist. Schon rechtlich nicht, sagt der Arzt. Ich kann das nicht beurteilen. Ich habe Angst davor, das Kind zu verlieren, später, wenn das Leben realer ist. Deswegen denke ich darüber nach, die Schwangerschaft abzubrechen.
„Wir wollen Leben retten“, sagt Professor Wolfgang Henrich, als ich ihn Wochen nach der Abtreibung interviewe, weil ich Antworten suche, aber kaum klare Fragen habe. Er ist nicht mein behandelnder Arzt, sondern Leiter der Geburtsmedizin der Charité. Er gerät in eine Verteidigungshaltung, die mich verunsichert. Er sagt, dass etwa ein Prozent der Neugeborenen einen Herzfehler habe, bei dem es helfe, ihn früh zu entdecken und bei der Geburt darauf reagieren zu können. Und es gehe darum, Frauen eine Selbstbestimmung zu ermöglichen. „Keine Frau macht das leichtfertig.“ Ich nicke.
„Egal, was wir machen, das wird jetzt alles scheiße werden“, sagt mein Mann irgendwann in diesen Sommerwochen, in denen kein Sommer ist. „Satz mit x, war wohl nix.“ Seine Einschätzung ist auf absurde Weise beruhigend. Und vielleicht auch die größte Erkenntnis aus dem Besuch bei der Beratungsstelle. Da schicken sie einen hin. Sie sprechen dann leise: Gehen Sie dahin, die helfen Ihnen.
Auch die Frau in der Beratungsstelle spricht leise. Und langsam. Ich bin ungeduldig, weil sie all das erzählt, was ich schon im Internet gelesen habe. Dass nach einem auffälligen Erst-Screening die Möglichkeit besteht, eine nicht ganz risikofreie Fruchtwasseruntersuchung zu machen – oder gar nichts zu tun und sich für das Kind zu entscheiden. Dass man die Belastung aber nicht unterschätzen dürfe.
Warten oder entscheiden?
Und wenn die Fruchtwasseruntersuchung keine Diagnose bringt, dann müsse man bis zum Feinscreening um die 22. Woche warten. Sicher sei eine genaue Diagnose dann aber auch nicht. Ich will nur wissen, ob mein Kind gesund sein kann. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr Kind nicht gesund ist.“
Die Taschentücher liegen auf dem Beistelltisch, die Beraterin erklärt den Unterschied zwischen einer zeitnahen Ausschabung und einem späteren Abbruch. Sie sagt, dass die Kinder, wenn sie fast schon lebensfähig sind, meist mit einer Spritze getötet würden, bevor man sie gebären müsse. Stille Geburt heißt das. Ich denke, das könnte ich nicht durchstehen. Heute weiß ich, man kann fast alles durchstehen.
Sie sagt, dass wir gefragt werden würden, ob wir das Kind danach sehen wollen. Und dass eine Abtreibung kein Teppich sei, unter den man das Problem kehren könne. Dass dieses Kind uns nun unser ganzes Leben beschäftigen werde. Zumindest das war ja so geplant.
„Das Schlimmste wäre, es in ein paar Monaten zu verlieren oder kurz nach der Geburt“, sage ich zu meinem Mann. Die Möglichkeit, dass wir unterschiedlicher Meinung sein könnten, schließe ich aus. Was ist als Nächstes zu tun? Planänderung alle paar Minuten. In einem Moment glaube ich daran, dass das Kind gesund ist, im nächsten Moment weiß ich, dass es nicht so ist.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Wir sind uns einig, dass wir kein schwer krankes Kind bekommen. Können. Wollen. Unkontrollierte Tränen. Unser Sohn, dessen Existenz nun wie ein reiner Glücksfall scheint, macht das erste Mal seit über einem Jahr wieder ins Bett. Wir vereinbaren einen weiteren Termin beim Chefarzt. Ich verbringe eine Menge Zeit im Internet, im Wartezimmer und gebe eine Menge Blut ab. Für 299 Euro kann man testen, ob das Kind Trisomie 21, 18 oder 13 hat. Nur diese drei Anomalien. Was machen Frauen, die weniger Geld und keine flexiblen Arbeitszeiten haben?
Wir werfen eine Matratze ins Auto und fahren nach Italien. Es ist der schönste Urlaub seit Jahren. Wie verzweifelt wir sind, merke ich, als mein Mann eine Kerze in der Kirche von Bellagio anzündet. Und unser Sohn will immer über Jesus reden.
Je früher der Befund, desto häufiger wird abgetrieben
Professor Henrich wird einige Wochen später sagen, dass etwa 150.000 bis 200.000 Schwangerschaftsabbrüche im Jahr bei gesunden Kindern vorgenommen würden. Und nur etwa 1.600 bis 2.000 mit medizinischer Indikation.
Er sagt, je früher innerhalb der Schwangerschaft der Befund da sei, desto eher würden die Föten abgetrieben. Und er sagt, dass es zwei Peaks gäbe, in der 13. und 14. Woche, sowie dann nach dem Organscreening um die 22. Woche herum.
Ich bin in der 12. Woche. Das Ergebnis des Bluttests ist nicht nach drei Werktagen da, wie versprochen, sondern nach fünf. Ich sitze auf einem Campingplatz am Lago Maggiore, eine Ente läuft vorbei, und ich stelle mich auf alles ein. „So wie ich das hier sehe, ist der Test unauffällig“, sagt die Frau am Telefon. Mir wird schwindelig. Keine der drei Trisomien bedeutet, es könnte eine der unzähligen anderen haben.
Wir werden darüber entscheiden müssen, ob wir ein vielleicht lebensfähiges Kind abtreiben, weil es wahrscheinlich schwer krank ist. Wir gehen wieder zum Chefarzt. Das sind die sicheren Momente, weil wir nicht abwägen müssen, nur zuhören. Ich mag den Arzt. „Unauffälliger Blut-Test bedeutet erst mal Durchatmen“, sagt er. Ich atme durch. Dann schaut er sich das Herz unter dem Ultraschall an: unauffällig. Frequenz durchschnittlich. „Wenn ich einen Tipp abgeben darf, es ist ein Junge.“ Das Gehirn: unauffällig. Man sieht das Blut dadurch fließen. Nabelschnur, Nasenbein, Wirbelsäule, Blase, alles da. Alles gut, oder?
Ich freue mich. Mein Mann scheinbar nicht. „Aber die Nackentransparenz ist deutlich sichtbar.“ Sie ist noch größer geworden. 5,9 mm. Und: am Nacken seien große Zysten zu sehen, das Kinn sei nicht wirklich darstellbar. Im Befund steht hinterher, dass die Stirn auffällig hoch sei. Der Arzt sagt, dass Organfehler sich also noch entwickeln könnten und dass eine geistige Beeinträchtigung möglich wäre. Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden abgetrieben? „95 Prozent.“
„Was hast du gedacht, als du das Baby gesehen hast?“, fragt mein Mann, als wir aus dem Krankenhaus gehen, das ich nicht mehr sehen mag, mit seinem orangefarbenen Linoleum, mit seinen leblosen Pflanzen. Ich denke: Das ist mein Baby. Ich antworte nicht. Mein Mann sagt: „Es ist nicht in Ordnung.“
Ich rufe bei Ulrich Sancken an. Wenn man im Internet, das der Pränataldiagnostik eher zu misstrauen scheint, nach ebenjener sucht, landet man rasch bei ihm. Er ist Biologe mit genetischer Ausrichtung, arbeitet in einem Labor für Humangenetik, ist Vater einer Tochter, die mit offenem Rücken zur Welt kam, und schreibt in Foren. Er tauscht sich aus mit Frauen, die Befunde gehört haben wie ich. Er sagt, er habe viele Eltern kennengelernt, die eine ungünstige Prognose hatten, deren Kinder aber gesund zur Welt kamen. Man müsse sich die Softmarker angucken, sagt er. Das sind bei uns die Zysten, die aber auf kein Krankheitsbild eindeutig passen.
Entscheidung für Abtreibung nennt der Arzt „sinnvoll“
Es ist Mittwoch, wir vereinbaren zwei Termine für Montag. Entweder nehmen wir den einen wahr oder den anderen. Ein Termin für die Fruchtwasseruntersuchung und einen für eine Kürettage – ein schönes Wort für den unschönen Vorgang der Ausschabung. Die Fast-Entscheidung zu einem Abbruch nennt der Arzt „sinnvoll“. Er füllt einen gelben Zettel aus. „Aston Martin Race“ steht auf seinem T-Shirt. Es wird nicht mehr viel geredet. Papierkram. „Sammelbestattung dann?“, fragt er. „Äh“, sagt mein Mann, „können wir das später entscheiden?“– „Natürlich.“ Eine Gewebeprobe werde dann in die Genetik geschickt.
Eine befreundete Gynäkologin rät, eine zweite Meinung einzuholen. Wir gehen zum Humangenetiker, mit der Drohung des nahenden Abbruchs bekommt man schnell einen Termin. In der großen Pränatalpraxis hängen viele Babyfotos. Fische im Aquarium werden gefüttert. Also werden hier doch gesunde Kinder geboren. Er sagt uns, dass wir wahrscheinlich nicht herausfinden werden, ob und welche Chromosomen-Anomalie das Kind habe. Dafür sei die Forschung noch nicht weit genug. Die Untersuchung des Fruchtwassers würde drei Wochen dauern. Ferienzeit. Danach bleibt nur noch eine vaginale Geburt.
Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden abgetrieben? Er überlegt: „Über 50 Prozent.“ Das klingt schon besser. Aber irgendwann sagt er es: „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Ihr Kind gesund ist.“ Man habe ausreichend Daten, um das sagen zu können. Wir gehen. Erleichtert. Wenn man Entscheidungen trifft, weiß man irgendwann, es gibt nur die eine, die richtige. Das soll alles aufhören. Die Verantwortung scheint größer als ich. Der eine Weg erträglicher als der andere.
Zwei Tage vor dem Abbruch wieder ins Krankenhaus. Ich fahre allein. Es ist Samstag. Ich finde niemanden. Nur ein paar Schwangere, die auf die Geburt warten. Ich bin nicht neidisch. Ich klingele. Ich werde in einen Raum gebracht, in dem ein breites Bett steht. Auf so einem Bett habe ich meinen Sohn zur Welt gebracht. Ein leeres Babybett steht daneben, bunte Bettwäsche.
Eine Ärztin kommt, schaut in meinen Papierstapel. „Haben Sie eigentlich einen Genetiker gesprochen?“ Warum fragt sie das? Gibt es doch Hoffnung? „Was man sieht, sieht man, oder?“, sagt sie und gibt mir eine Tablette, die Abtreibungspille Mifegyne. Ich schlucke sie. Grüne Papierhandtücher, viel zu hart, um sich die Nase zu putzen. „Keine Situation, um die man Sie beneidet.“ Wir fahren aufs Land. Alle trinken Wein. Ich nicht, trinken schadet dem Baby.
Überall Blutklumpen
Zwei Tage später müssen wir lachen, hysterisch fast. Um 13 Uhr sollte die Ausschabungs-OP sein, jetzt ist es 15 Uhr. Das Bett ist nicht breit, aber breit genug, um sich gegenseitig festzuhalten. Ich stehe jetzt aber im Krankenhauszimmer, durchnässt, weil ich leichte Wehen und einen Fruchtblasensprung gehabt hatte. Ich fange an zu bluten, immer mehr, nachdem ich zwei Tabletten Cytotec genommen habe – das Medikament, das eigentlich die Magenschleimhaut stärken soll, aber auch Fehlgeburten auslöst.
Das Blut tropft dunkel auf das Linoleum, meine Unterhose ist voller blutiger Klumpen. Ich versuche, den Boden sauber zu wischen, und rutsche fast aus. Ich glaube, das ist jetzt schon das Kind, das da am Boden in meiner Unterwäsche liegt. „Bitte hol jemanden.“ Die Hebamme sagt, sie habe gerade Schichtbeginn. Sie sucht nach dem Kind. Nein, das ist es noch nicht. Und da ist gar nichts anderes möglich, als zu lachen.
Die Narkose dauert 15 Minuten. Die Tränen dringen durch die Betäubung in den neuen Zustand. „Ich habe nicht auf mein Kind aufgepasst.“ Die Ärztin sagt, es war ein Junge und es war die richtige Entscheidung. Mein Mann sagt später, sie habe auch gesagt, er sei schwer krank gewesen. Ich habe das nicht gehört. Obduktion? Ja. Ich will das alles wissen.
Wir schreiben den Freunden und der Familie, dass wir uns von unserem Sohn verabschiedet haben. „Bevor der Abschied unerträglich geworden wäre. Wir sind froh über das, was da ist. Alles geht immer weiter.“ Ich habe mein Kind verloren? Ich habe es abgetrieben? Beides stimmt nicht ganz. Als die Leute anmaßend antworten – „das war die richtige Entscheidung“ –, ärgere ich mich. „Ist das Baby jetzt begraben?“, fragt der Sohn. Ich schwindele: Ja. „Oh, schade.“
Wie geht es dir, fragt die Freundin. „Mir geht es gut. Ich schäme mich etwas deswegen. Wahrscheinlich geht es mir bald wieder schlecht. Es war fast schön. Wir konnten ihn sogar noch mal sehen.“
Ich bereue es nicht
Wenn ich von der Begegnung mit ihm erzähle, spreche ich von etwas Heiligem. Es war wirklich fast schön. Durchsichtig und blau, in einem kleinen geflochtenen Korb, eingewickelt in ein blaues Stofftaschentuch. Wir haben uns langsam genähert. So klein. Wenn wir ihn angefasst hätten, wäre seine dünne Haut gerissen. Wir haben ihm meinen silbernen Armreif mitgegeben, die Hebamme hat ihn um seinen Bauch gelegt, nachdem sie ihn fotografiert hatte. Er hatte so eine schöne Kopfform. Der Kopf hätte in meine Hand gepasst. Ich habe nicht daran gedacht, nach einer hohen Stirn zu suchen.
Eine Woche später spüre ich ihn noch im Bauch. Eine Woche später kann ich nicht seinen Namen sagen. Eine Woche später wollen Freunde und Familie von uns Trauer sehen, wo Unverständnis ist. Ich berühre die Einstichstelle des Venenzugangs. Ich zerschlage eine Motte mit der Hand. Täterin. Ich probiere neue Parfüms aus. Aus einem Elternpaar sind zwei Trauernde geworden.
Es fühlt sich so an, als wäre jetzt alles anders, als käme ich nicht wieder in das alte Leben rein. Aber die Angst davor, dass alles wieder so sein wird wie vorher, ist noch größer. „Wann kommt mein Bruder?“, fragt mein Sohn. Eine Freundin erzählt von ihrem Krebs. Das ist schlimm. Nicht meine Geschichte.
Es ist schon Herbst, als ein Brief von der Krankenhausseelsorge kommt. Einladung zur Trauerfeier in zwei Monaten, eine Sammelbestattung. Man solle bitte nicht filmen und fotografieren. Es ist noch nicht vorbei. Ich gehe zum Frauenarzt. „Wie geht es Ihnen?“ Wenn Sie nicht fragen, ganz gut. „Ich bin stabil“, sage ich. Ob ich schlafen könne, fragt er. Immer, sage ich. Ich bereue es nicht. Ich habe getan, was ich konnte.
Ist es, weil ich am Anfang der Schwangerschaft getrunken habe? Eine Laune der Natur, sagt der Arzt. 300 Schwangerschaften betreut er jährlich. So unübersehbare Auffälligkeiten habe er drei bis vier Mal im Jahr, und die würden eigentlich immer zum Abbruch führen. Meist wären sie mit Chromosomen-Anomalie diagnostiziert. So eine hohe Nackenfaltentransparenz könne man nicht ignorieren.
Professor Henrich hat gesagt, dass auffällige Föten oft nicht eindeutig diagnostiziert werden können. Aber die meisten Eltern bekommen eine Diagnose, sagte er. Und er habe in 20 Jahren nicht erlebt, dass die Pathologie, wenn sie sich die Kinder anschaut, was in Deutschland aus gesetzlichen Gründen nur auf Wunsch der Eltern passiert, hinterher sagt, das Kind sei gesund gewesen. Wenn es keinen starken Grund gäbe, würde kein Arzt den Abbruch durchführen.
Nach neun Wochen fahre ich wieder ins Krankenhaus. Der Chefarzt hat viele Blätter in der Hand, die Obduktionsergebnisse. Die großen Zysten wurden gefunden. Die hohe Stirn, das kleine Kinn. Dazu noch ein flacher Hinterkopf, ein tiefer Ohransatz links. „Diskrete Hinweise auf eine syndromale Erkrankung“. Welche? Unklar. Genetischer Befund? Unauffällig. „Sie haben keinen Fehler gemacht, da war schon was bei dem Mädchen.“ Mädchen? „Ja, XX-Chromosomen.“ Aber es war doch ein Junge? „In dem frühen Entwicklungsstadium schwer zu erkennen, die Klitoris könnte besonders groß gewesen sein, vielleicht auch ein Hinweis auf eine Krankheit.“ Okay, danke. Auf Wiedersehen.
Mein Mädchen. Elf Blatt Papier mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Einigung über die Zukunft von VW
Die Sozialpartnerschaft ist vorerst gerettet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen