Magazin „Tempo“: Insel der Möglichkeiten

Der Name des legendären Monatsmagazins „Tempo“ wird von einem Verlag recycelt. Das Blatt stand für einen Journalismus der anderen Art.

Magazin-Köpfe mit der Aufschrift "Tempo"

Erregte Aufsehen: das Magazin „Tempo“, das zwischen 1986 und 1996 erschien Foto: imago/teutopress

Christian Kracht, Maxim Biller, Sibylle Berg. Diese Schriftsteller waren Redakteur, Kolumnist oder Autorin bei Tempo, und diese Namen fallen oft, wenn es um die Bedeutung des zwischen 1986 und 1996 existierenden Monatsmagazins geht.

Das Erste, woran ich bei Tempo denke, ist die sich in der Elbe spiegelnde Sonne. Es waren sehr einladende Arbeitsbedingungen, mit denen uns der Jahreszeiten Verlag zu Gedankenflügen zu inspirieren versuchte. Wenige Meter von dem Schreibtisch entfernt, an dem ich rund zwei Jahre saß, lag der Fluss, nebenan legte damals die Fähre nach England ab. Ständig begegnete man Touristen, ständig roch es nach Urlaub.

Der Buchverlag Hoffmann und Campe – Teil der Ganske-Gruppe, zu der auch der Jahreszeiten Verlag gehört – hat ein Sublabel ins Leben gerufen, für das er den alten Namen Tempo nutzt. Einige Autoren des ersten Verlagsprogramms haben mit Tempo zwar eher wenig zu tun (Bob Dylan), aber diese Marketingidee bietet immerhin die Gelegenheit zu fragen, inwiefern Tempo und das, wofür das Magazin stand, heute noch relevant oder inspirierend sein können.

Mit mir im Raum saß damals Jörg Böckem. Er volontierte bei Tempo, heute ist er bekannt durch Bücher zum Thema Drogen – nicht zuletzt seine eigene Heroinsucht. „Tempo war für mich in vielfacher Hinsicht extrem wichtig. Ich hätte nirgendwo anders so reibungslos in dem Beruf Fuß fassen können“, sagt er heute. Als Böckem sein Praktikum begann, war er noch in der Nachsorge zu seiner ersten Heroin-Therapie. Bei Tempo traf er unter anderem auf die frühere RAF-Terroristin Astrid Proll, die das Fotoressort leitete.

Wer bei Tempo Redakteur werden wollte, musste jedenfalls „nicht die klassische Journalistenschulbiografie vorweisen“ (Böckem). Heute sind dagegen die formalen Hürden, um bei einem Printtitel ein Volontariat zu bekommen, so hoch, dass Seiteneinsteiger keine Chance haben. Wäre der Journalismus heute vielleicht besser, wenn das anders wäre?

Im Stil Jan Böhmermanns

Aufsehen erregte Tempo 1987 mit der Story „42 Jahre nach Auschwitz. So fanden wir acht Bauplätze für ein Aids-Lager“. Dafür tarnten sich Redakteure als Mitarbeiter einer Investmentfirma, die deutschen Bürgermeistern vorschlug, ein Lager für HIV-Infizierte zu errichten. Dabei präsentierten sie ihnen einen Bauplan, der sich kaum von dem des Konzentrationslagers Sachsenhausen unterschied.

Im Jahr darauf schmuggelte die Redaktion eine parodistische Ausgabe des Neuen Deutschland in die DDR, woraufhin Die Zeit fragte: „Darf man Witze machen auf Kosten unserer Brüder und Schwestern, sich amüsieren über die deutsche Wunde?“ Aktionen solcher Art zieht heute Jan Böhmermann durch.

Mein anderer Bürogenosse war Otmar Jenner. Er war der zweite Deutsche, der je ein Visum für Afghanistan bekam. Das war 1989, kurz nachdem die Sowjets abgezogen waren. In einem wenige Minuten kurzen Gespräch überzeugte er Markus Peichl, den Gründer und ersten Chefredakteur von Tempo, davon, ihn nach Afghanistan zu schicken. Jenner war dort im selben Hotel untergebracht wie Gulbuddin Hekmatyār, ein Warlord, der später mit al-Qaida paktierte.

„Der hat seine Jungs jeden Morgen geweckt, indem er mit dem Maschinengewehr gegen die Tür gehauen hat“, sagt Jenner, der heute als Heiler in Berlin tätig ist. „Wir haben uns damals mit einer Naivität in Geschichten reinbegeben, die heute kaum noch vorstellbar ist.“ Tempo, sagt er, sei eine „Insel der Möglichkeiten“ gewesen – auch für „spektakulär schöne Unsinnigkeiten, obwohl die mir nicht alle angenehm waren“.

Von Nazi-Titeln zu Sex-Schlagzeilen

Im Laufe seiner zehnjährigen Existenz stand Tempo für sehr unterschiedliche Formen von Journalismus. Die Entwicklung des Jahres 1994 verdeutlicht das recht gut: Fürs April-Heft schrieb Otmar Jenner die längste Geschichte, die je in Tempo erschienen ist, sie umfasste rund 55.000 Zeichen. Darin ging es um eine junge Frau, die Schwierigkeiten hat, sich von der Neonaziszene zu lösen. „Inger, 22, Aussteigerin; Mein Leben mit den Nazis“, lautete die Zeile auf dem Titel.

Kurz nach Erscheinen des Hefts trennte sich der Verlag von Chefredakteur Michael Jürgs. Die ersten drei komplett von seinem Nachfolger Walter Mayer verantworteten Hefte hatten folgende Titelzeilen: „Generation Sex. Das unverzagte Liebesleben der New Yorker Teenager“, „Tabu unbefriedigte Frau“ und „Leben Schwule besser?“

Der Verlag habe bei der Auswahl der Chefredakteure „den Fehler gemacht, das eine Extrem durch das andere abzulösen. Sinnvoller wäre es gewesen, die Chefredaktionen vielschichtiger zu besetzen“, sagt Stephan Timm.

Der Endvierziger kennt die Geschichte des Magazins am besten – obwohl er dort nie gearbeitet hat. Timm ist der Gründer einer Tempo-Facebook-Gruppe, dort macht er alte Artikel zugänglich. Tempo habe ihm gezeigt, dass es „ein besseres Leben geben muss neben dem, das ich als Pubertierender in einer Vorstadt führen musste“. Auch wer nicht unter großem Gegenwartspessimismus leidet, wird sich kaum vorstellen können, dass jemand heute Ähnliches über eine Zeitschrift sagt.

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