Der Begriff „Gefährder“: Sprachliche Aufrüstung
„Gefährder“ ist ein Neusprech-Neologismus von Innenministern. De facto handelt es sich aber um Unschuldige.
Der Verdächtige Anis Amir wird derzeit von der Polizei gesucht. Schon zuvor war er den Sicherheitsbehörden als „Gefährder“ bekannt, das Bundeskriminalamt kennt insgesamt über 500 solcher „Gefährder“. Nun ist die Empörung groß: Warum wurde gegen Anis Amir und andere „Gefährder“ nichts unternommen?
„Gefahr“ (drohendes Unheil) geht auf das mittelhochdeutsche „vāre“ (Nachstellung, Hinterlist) zurück. Der Begriff „Gefährder“ wurde 2004 von der AG Kripo eingeführt.
Bekannt wurde er 2007 durch den ehemaligen Innenminister Wolfgang Schäuble, der gegenüber dem Spiegel vorschlug, „Gefährder“ wie Kombattanten nach dem Kriegsrecht zu behandeln und zu internieren, auch die Verhängung eines Kommunikationsverbotes per Internet und Handy sei für „Gefährder“ denkbar.
Eine offizielle Definition von „Gefährder“ gibt es nicht, der ehemalige Innenminister Hans-Peter Friedrich bezeichnete „Gefährder“ als „Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten“.
Im juristischen Sinn hat der Begriff jedoch keinerlei Bedeutung, denn gegen einen „Gefährder“ liegen keine konkreten Hinweise vor, die für eine Anklage ausreichen. Es handelt sich also nicht einmal um Verdächtige, kurz gesagt: Es geht um Unschuldige.
„Gefährder“ ist ein Neusprech-Neologismus von Innenministern, die gerne eines unserer wichtigsten rechtsstaatlichen Prinzipien unterhöhlen würden: Die Unschuldsvermutung.
Der Begriff soll es möglich machen, Menschen, die nichts Strafbares getan haben, wie Kriminelle zu behandeln, und ist damit Teil einer sprachlichen Aufrüstung, die von Medienschaffenden nicht undifferenziert nachgeplappert werden sollte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht