30 Jahre nach dem Super-GAU: Tschernobyl-Reaktor unter der Haube
Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Der alte Tschernobyl-Sarkophag bröselte auseinander. Nun ist die neue Schutzhülle für Block 4 fertig.
Mit dem neuen Dach, dem „Confinement“, sei, so die Veranstalter, eine Gefahr gebannt. Die 1986 in aller Eile fertiggestellte Betonhülle, auch Sarkophag genannt, die die Umwelt für lange Zeit vor einem weiteren Austreten der im Reaktor verbliebenen Radioaktivität hatte schützen sollen, wurde zusehends brüchig. Eine bogenförmige Metallkonstruktion, 260 Meter breit, 110 Meter hoch und 36.000 Tonnen schwer wurde aus Strahlenschutzgründen 300 Meter vom Reaktor entfernt gebaut und Anfang November auf Gleisen über den alten Reaktor gefahren.
„Wir haben einen Wettlauf mit der Zeit gewonnen“, erklärt Balthasar Lindauer, stellvertretender Chef der Abteilung für nukleare Sicherheit bei der EBRD, gegenüber der taz. „30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind die verbliebenen radioaktiven Stoffe von Reaktor 4 durch eine weltweit einzigartige Ingenieurleistung sicher verschlossen“, heißt es in einer Presseerklärung des ukrainischen Umweltministeriums. Mit dem Confinement sei man auf dem Weg, die Sperrzone um Tschernobyl in ein ökologisch sicheres Gebiet zu transformieren, erläutert Ostap Semerak, der ukrainische Umweltminister.
Auch der Busfahrer Andrej, der Gäste für die EBRD von Kiew nach Tschernobyl gefahren hat, freut sich über die neue Schutzhülle. „Heute Morgen bin ich hier in Tschernobyl angekommen, und endlich ist dieser hässliche Sarkophag nicht mehr zu sehen. Ich denke, jetzt können wir uns sicherer fühlen.“ Während andere ständig auf ihr Mobiltelefon gucken, lässt Andrej seinen Geigerzähler nicht aus den Augen. „Ich bemühe mich hier in Tschernobyl, nicht vom Asphalt abzukommen. Sobald man auf das Gras geht, tickt der Geigerzähler schneller.“
Fortdauernde Katastrophe ignoriert
Fachleute gehen davon aus, dass noch an der neuen Schutzhülle gearbeitet werden muss. „Das Projekt ist noch nicht zu Ende“, erklärt EBRD-Vertreter Lindauer. „Systeme müssen angeschlossen, Tests gefahren, alles versiegelt werden. Dann muss die Übergabe samt Genehmigungsverfahren erfolgen. Das dürfte noch ein Jahr dauern.“
Nicht alle teilen die Euphorie über die neue Schutzhülle. „Es ist eine verdrehte Wahrnehmung der Realität, den neuen Sarkophag als großartiges Projekt zu feiern. Die fortdauernde Katastrophe dahinter wird geradezu ignoriert“, erklärt die grüne Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl. Sie bemängelt, dass es kein Konzept für den im Reaktor 4 verbliebenen radioaktiven Müll gebe.
Bei der EBRD ist man sich dessen bewusst, geht jedoch davon aus, dass mit dem Bau der neuen Schutzhülle Zeit gewonnen worden sei. „Man kann jetzt planen, wie man den Sarkophag zurückbaut und das radioaktive Inventar bergen wird“, sagt Balthasar Lindauer von der EBRD. Das müsse zügig passieren. Zudem sei geplant, sogenannte instabile Teile an dem alten Sarkophag abzubauen. Dafür biete das New Safe Confinement die Ausrüstung.
Andrej, Busfahrer
Ein weiteres Problem könnte die Zusammenarbeit zwischen ukrainischer Atomwirtschaft und internationaler Gemeinschaft erschweren. In den letzten Monaten waren Korruptionsvorwürfe gegen Igor Gramotkin, den Direktor des Atomkraftwerkes Tschernobyl, laut geworden. Nach Angaben der ukrainischen Internet-Zeitung Nashi Groshi soll Gramotkin Aufträge in Höhe von 6,5 Millionen Euro an Firmen vergeben haben, in denen Verwandte des Direktors in führender Position seien.
Mit Unterstützung des Direktors sollen 7.000 Tonnen radioaktiven Metalls abhandengekommen sein, die hätten dekontaminiert und an das AKW zurückgeliefert werden müssen. Stattdessen sei es unter Preis verkauft worden. Inzwischen läuft ein Ermittlungsverfahren gegen den Chef des vom Netz genommenen Kraftwerks. Das Internetportal strana.ua berichtet von 100.000 Dollar, die bei einer Hausdurchsuchung bei der Familie beschlagnahmt worden seien.
Bei der EBRD kenne man die Vorwürfe, so Lindauer. Die ukrainischen Partner hätten jedoch versichert, dass EBRD-Gelder hiervon nicht betroffen und die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. „Unser Geschäftsmodell ist so aufgebaut, dass von uns keine Gelder direkt an das Kraftwerk gehen“, so Lindauer. Sollten sich die Vorwürfe erhärten, dürften sie das Vertrauen von Geldgebern in die ukrainische Atomwirtschaft belasten.
***
Chronik einer Katastrophe
Dezember 1983: Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl geht ans Netz.
25. April 1986, 13 Uhr: Für einen Test wird ein Stromausfall simuliert, die Sicherungssysteme werden außer Betrieb gesetzt.
14 Uhr: Weil Kiew Strom anfordert, wird der Test unterbrochen, die Notkühlsysteme bleiben abgeschaltet
26. April 1986: Im Abstand von wenigen Sekunden kommt es zu zwei Explosionen, das Dach des Reaktorgebäudes wird weggesprengt. Die eindringende Luft facht einen Brand an. Rauch steigt kilometerhoch in die Atmosphäre und reißt radioaktiven Staub mit sich.
5 Uhr: Die Brände außerhalb des Reaktorgebäudes sind gelöscht. Der Versuch, das Innere des brennenden Reaktors mit Wasser zu kühlen, schlägt fehl. Stattdessen läuft kontaminiertes Wasser aus dem Gebäude. Inzwischen hat die Strahlung im 3 Kilometer entfernten Pripjat das 600.000-Fache des normalen Werts erreicht und steigt an.
27. April: Die Behörden befehlen die Evakuierung von Pripjat – als reine Vorsichtsmaßnahme und lediglich für drei Tage, heißt es zunächst. Um die Brände am Reaktor unter Kontrolle zu bekommen, werfen Helfer aus Hubschraubern und Flugzeugen tagelang Chemikalien, Blei, Sand und Lehm auf den zerstörten Reaktor ab.
28. April: Ungewöhnlich hohe Radioaktivität löst bei Messstationen in Schweden und Dänemark Alarm aus. Die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur Tass meldet einen Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl.
29. April: Die UdSSR spricht erstmals von einer „Katastrophe“ und zwei Todesopfern.
30. April: Moskau dementiert Berichte über Tausende Tote. In der DDR werden die Menschen über eine Tass-Meldung informiert, dass es zum „Entweichen einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“ gekommen sei.
19. Juli: Die Bilanz aus Moskau: Unglücksursache sei grobe Fahrlässigkeit des Bedienungspersonals gewesen. 28 Menschen seien gestorben, 208 verletzt. Tatsächlich sterben Tausende Menschen an den Folgen der Katastrophe.
15. November: Der Sarkophag ist fertiggestellt. Die Reaktoren 1 bis 3 sind wieder in Betrieb.
15. Dezember 2000: Der letzte Reaktor wird stillgelegt.
26. April 2012: Der Grundstein für die Schutzhülle New Safe Confinement (NSC) wird gelegt.
29. November 2016: Der fertige NSC wird endgültig über den Reaktor 4 geschoben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin