Lesbische Geflüchtete aus Syrien: „Eigentlich atme ich nur“
Judy ist aus Aleppo geflohen – nicht vor dem Krieg, sondern weil sie lesbisch ist. In Hamburg angekommen, fühlte sie sich in den Unterkünften nicht immer sicher.
taz: Wie geht es Ihnen, Judy?
Judy*: Ich atme noch.
Wie meinen Sie das?
Ich fühle mich, als wäre ich eigentlich nicht am Leben. Das ist kein Leben: Essen, schlafen, atmen. Ich studiere nicht, ich habe kein normales Leben. Eigentlich atme ich nur.
18, wuchs in der syrischen Stadt Aleppo auf und musste fliehen, weil sie sich wegen ihrer sexuellen Orientierung bedroht fühlte. Heute lebt sie in Hamburg und möchte anonym bleiben.
Sie sind aus Aleppo geflohen, aber der Krieg war nicht der primäre Grund. Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?
Ich bin geflohen, weil ich lesbisch bin. Dadurch unterscheidet sich meine Situation von der anderer syrischer Refugees.
Wie ist das Leben in Syrien für Homosexuelle?
Man muss seine Sexualität verstecken – es ist ein No-Go. Du kannst nicht darüber reden, du kannst nichts darüber lesen, du kannst nichts machen. Sie sagen, das sei in jeder Religion eine Sünde.
Sind Sie religiös?
Ich bin muslimisch. Aber ich habe viele Dinge an meiner Religion zu kritisieren. Zum Beispiel: Warum sollte ich einen Hijab tragen? Gott hat mir Haar gegeben. Wieso sollte ich es dann verstecken? Und: Gott hat mich lesbisch gemacht. Warum sollte ich dafür bestraft werden, wenn er mich so gemacht hat?
Was gab den Ausschlag für Ihre Flucht?
Die Polizei hat nach mir gesucht. Ich hatte Streit mit meiner Ex-Freundin. Sie hat Schluss gemacht, mich angezeigt und der Polizei gesagt, dass ich lesbisch bin. Das ist ein Verbrechen in Syrien, du kommst dafür in den Knast. Offiziell für fünf Jahre, aber in Wirklichkeit solange bis – keine Ahnung, das weiß nur Gott.
Warum wollte sie Ihnen das antun?
Wir waren vier Jahre zusammen. Sie war viel unterwegs, ist viel weggegangen – rauchen, trinken, tanzen. Irgendwann haben die Leute angefangen, über sie zu reden. Das ist gefährlich, also hab ich ihr gesagt, dass sie damit aufhören soll. Ich habe zwar dasselbe gemacht, aber nicht so offensichtlich. Aber sie ist wütend geworden.
Und die Polizei hat ihr geglaubt?
Sie hat die Polizei bestimmt dafür bezahlt. In Syrien kannst du für alles bezahlen. Du kannst Regeln aufstellen, wenn du bezahlst.
Was hat die Polizei gemacht?
Eines Tages bin ich die Straße entlanggegangen und zwei Männer kamen auf mich zu und sagten, ich solle mitkommen. Ich musste zur Polizeistation. Ich habe dann eine Freundin angerufen, die kam und bezahlte, damit ich freikam. Als ich draußen war, habe ich meine Mutter angerufen, die schon unterwegs nach Deutschland war. Sie sagte: „Du musst fliehen.“
Wie haben Sie es nach Deutschland geschafft?
Das hat drei Monate gedauert. Mein Boot ist sieben Mal gekentert.
Können Sie schwimmen?
Ich habe es dann gelernt. Ich wurde auch jedes Mal gerettet.
Ist die Flucht schwieriger für junge Frauen als für Männer?
Ja. Ich wurde zwei Mal sexuell belästigt und zwei Mal entführt. Im Libanon am Flughafen wurde mein Gepäck durchsucht. Ich hatte eine Kugel, also Munition, an einer Kette von einem Freund geschenkt bekommen, als Glücksbringer. Das ist ein übliches Geschenk in Syrien. Als sie die Kugel fanden, nahm mich ein Wachmann beiseite und sagte: „Entweder ich rufe die Polizei und du sitzt hier für zwei Tage fest. Oder du kommst mit mir ins Hotel.“
Und dann?
Für zwei Sekunden dachte ich, ich mach es, weil ich keine Wahl habe. Dann sagte ich: „Ich kann nicht ins Hotel gehen, ich muss meinen Flug kriegen.“ Er sagte: „Kein Problem, hier ist ein leerer Raum, da können wir reingehen, für eine Stunde.“ Dann habe ich gesagt: „Fick dich, ruf doch die Polizei!“ Er gab mir seine Nummer und ließ mich laufen.
Wie ging die Flucht weiter?
In der Türkei hatte ich einen Schleuser, der mich nach Griechenland bringen sollte. Er schloss mich in seinem Haus ein, angeblich mit seiner Frau. Nach ein paar Tagen merkte ich, dass es nicht seine Frau war, sondern eine Prostituierte. Als er betrunken war, schlug er mich zusammen. Er rief meine Mutter an und sagte: „Ich werde deine Tochter nicht nach Griechenland bringen. Ich werde sie hier behalten und heiraten.“
Wie sind Sie rausgekommen?
Ich rief den Schleuserboss an, für den er arbeitete. Der kam mit dem Auto und holte mich raus. Es war wie im Film. Er brachte mich zu sich nach Hause und ich dachte: „Oh, nicht schon wieder. Okay, fick mich einfach, dann ist es vorbei.“ Aber er war sehr nett und fasste mich nicht an. Mit ihm schaffte ich es nach Griechenland. Da saß ich auf der Insel Samos fest, in einem Camp. Ich hatte große Angst, niemand sprach arabisch, alle waren aus Afrika, und ich konnte meinen Raum nicht abschließen.
Und dann?
Eines Tages kam ein marokkanisches Mädchen, Saida. Sie sprach arabisch und sagte: „Komm, ich zeige dir Athen!“ Ich vertraute ihr. Sie brachte mich irgendwo ins Nirgendwo bei Athen. Da tauchten plötzlich drei Typen auf. Sie sprachen sehr höflich mit mir und sagten: „Gib uns einfach deinen Pass, dann kann Saida weiterreisen.“ Denn für Syrerinnen ist es leichter als für Marokkanerinnen. Nur Irakis und Syrer kommen aus Griechenland raus. Sie sagten auch, sie würden mich dafür bezahlen.
Was haben Sie gemacht?
Ich sah jemanden vorbeikommen und sagte, ich würde schreien. Sie hatten auch Angst. Ich heftete mich an den Passanten, der zur Busstation lief. Dort wartete ich auf Saida, denn ich wusste nicht, wie ich zurück ins Camp kommen sollte. Ich sagte zu ihr: „Ich gebe dir eine Kopie meines Passes und du musst mir nichts zahlen. Aber ich muss vor dir ausreisen.“ Wir gingen zusammen zum Camp zurück und von dort aus floh ich. Eine Frau half mir. Sie fuhr mich mit dem Auto zu einer Busstation und von dort fuhr ich zur mazedonischen Grenze.
War die noch offen?
Nein, sie ließen nur noch zehn Busse pro Tag durch – höchstens. Mein Bus war die Nummer 90 in der Schlange. Nach einer Woche wollte ich nicht mehr warten. Zusammen mit Nador, einem Jungen, den ich kennengelernt hatte, wollte ich zu Fuß zum Anfang der Schlange gehen. Aber es war so kalt, dass ich dachte, wir würden erfrieren. Ich sagte: „Nador, wir müssen umdrehen. Ich spüre meine Knochen nicht mehr.“ Er sagte: „Nein, wir sind gleich am Anfang der Schlange, ich sehe schon den ersten Bus.“ Wir gingen weiter, aber nach einer halben Stunde wollte ich immer noch umkehren. Aber wir gingen immer weiter, bis zum fünften Bus in der Schlange.
Und da konnten Sie einfach rein?
Wir bezahlten dem Busfahrer jeweils 50 Euro dafür, dass er nichts sagte. Wir dachten, dass die anderen Leute im Bus uns dafür hassen und uns rausschmeißen würden, aber keiner merkte es so richtig. Alle waren nur froh, über die Grenze zu kommen.
Wie lange dauerte es von dort aus noch nach Deutschland?
Ungefähr zehn Tage. Als ich drüben war, fand mich die Organisation Save the Children. Sie sagten, sie könnten mich schneller nach Deutschland bringen, weil ich minderjährig war. Aber dann hätte ich Nador zurücklassen müssen, und er konnte nur arabisch und hatte kein Geld, weil er bestohlen worden war. Also reiste ich mit ihm weiter.
In Hamburg waren Sie erst einmal in einer Erstaufnahme-Unterkunft. Wie ging es Ihnen dort?
Nicht gut. Ich wurde sexuell belästigt. Dann ging ich zum Sozialarbeiter und er sagte: „Ich hab da was.“ Er brachte mich in die Unterkunft, wo ich jetzt bin. Hier ist es okay.
Können Sie nun offen lesbisch leben?
Nein, ich verstecke es, aber nicht wegen mir, sondern für meine Mutter. Sie schämt sich. Ich will ihr nicht wehtun. Und die anderen Leute in meiner Unterkunft – sie verstehen es nicht.
Aber jetzt wird es in der Zeitung stehen.
Das ist okay, die Leute lesen keine deutsche Zeitung.
Haben Sie Kontakt zur LGBTI-Szene in Hamburg?
Ja, ich bin jetzt in der Gruppe Queer Refugee Support. Da lerne ich viele Leute kennen – eigentlich wäre ich aber lieber in Berlin. Nur meine Mutter ist hier. Sie kann kein Englisch, also muss ich meinen und ihren Papierkram erledigen.
Vermissen Sie Syrien?
Nein. Ich habe da keine Rechte. Ich kann da nicht mal Fahrrad fahren, weil ich eine Frau bin. Aber ich vermisse meine Freunde, die noch da sind.
Wissen die, dass Sie lesbisch sind?
Ich habe es ihnen gesagt, aber sie akzeptieren es nicht. Ich war darüber sehr überrascht.
Denken Sie, dass die Regierung hier genug für queere Refugees tut?
Sie machen gar nichts – sie stellen keine Wohnungen für queere Geflüchtete bereit. Die SozialarbeiterInnen informieren nicht genügend über Anlaufstellen und Hilfsangebote für queere Geflüchtete. Die Polizei tut nichts, weil sie bei gewaltsamen, sexuellen Übergriffen die Opfer nicht ausreichend schützt.
Es gibt abgetrennte Bereiche für queere Refugees in einigen Unterkünften.
Ja, aber so etwas ist falsch. Falls jemand bis dahin nicht wusste, dass du lesbisch bist, weiß er es dann. Es ist noch gefährlicher.
Was wollen Sie in Zukunft machen?
Ich habe noch drei Schuljahre vor mir, dann kann ich studieren.
Und was?
Human Rights.
Haben Sie das schon lange vor?
Nein, die Idee kam mir auf der Flucht. Als ich sah, wie die Leute in den Camps behandelt werden. Als ein Camp-Mitarbeiter einen Syrer anschrie, weil der kein Englisch konnte. Er behandelte ihn wie ein Tier, nur weil er die Sprache nicht konnte. Da entschied ich, dass ich etwas tun muss.
Aber was genau?
Ich will etwas verändern. Nach all dem, was ich erlebt habe, will ich, dass Menschen wie Menschen behandelt werden. Ich will auch, dass sich in Syrien was verändert, vor allem für Frauen und für LGBTI. Sie müssen Rechte bekommen.
Was wünschen Sie sich?
Dass sich Deutschland wie mein zu Hause anfühlt. Dass ich eines Tages aufwache, und denke, ich habe Freunde, ich gehe zur Schule, ich kann die Sprache, kenne die Orte – dass ich ein normales Leben habe.
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland