Die Zuschauer bei Olympia: Kein Fairplay, aber ehrliches Gebrüll
Die brasilianischen Fans werden kritisiert, weil sie die eigenen Athleten anfeuern. Und Gegner verunglimpfen. Warum denn eigentlich nicht?
N ormalerweise ist es ja so: Die beiden letzten verbliebenen Stabhochspringer werden vom Publikum intensivst bejubelt. So sehr sind gewöhnlich alle im magischen Bann der Überflieger gefangen.
In Rio war aber alles anders, weshalb seit Montag intensivst über die mangelnde Fairness des brasilianischen Publikums diskutiert wird. Im finalen Stabhochsprung-Wettbewerb war Thiago Braz da Silva. 22 Jahre alt, Brasilianer, noch im Kampf um die Goldmedaille dabei und folglich Held der Stadionbesucher. Und so wurde der einzig verbliebene Konkurrent Renaud Lavillenie böse ausgebuht. Braz da Silva lieferte auch. Er überflog 6,03 Meter, knackte den olympischen Rekord. Eine grandiose Show, die brasilianischen Zuschauer schrien sich in Ekstase, tanzten, hüpften, feierten; ihr Landsmann, würde Gold holen. Oder doch nicht?
Einer stand ja noch bereit, um den Traumfänger zu übertrumpfen: Lavillenie, der französische Olympiasieger von London 2012, eine Art Usain Bolt des Stabhochsprungs. 6,08 Meter hatte er auflegen lassen, es würde sein Schlussversuch sein. Und würde er reißen, wäre Braz da Silva sensationell Olympiasieger. Das wussten alle, vor allem aber alle Brasilianer, die pfiffen und buhten, was das Zeug hielt. Lavillenie reagierte genervt, zeigte mit dem Daumen nach unten, wedelte mit dem Zeigefinger. So nicht Freunde, Fairplay ist was anderes, wollte er damit sagen. Es juckte natürlich niemanden, die Unmutsbekundungen wurden gar noch lauter, als Lavillenie anlief. Dann sprang er ab. Und schaffte es nicht.
Es folgte eine Jubelorgie. Man freute sich, dass ein Athlet, Lavillenie in diesem Fall, gescheitert ist. Ähnliche Vorkommnisse wurden bereits bei anderen Sportarten protokolliert. Äußerst flegelhaft! Verkörpert dies den olympischen Gedanken vom Miteinander, von der Völkerverständigung? Nein.
Früher war alles besser? Nö!
Andererseits: Muss überall ein so moralinsaurer Sportsgeist herrschen? Die Traditionalisten werden sagen: Ja, weil das zu Olympia dazugehört. Alle Sportler sind Helden, alle verdienen es, unterstützt zu werden, allen gebührt Respekt.
Tatsache ist: Gegenbeispiele von früheren olympischen Spielen gibt es viele. Lillehammer 1994 etwa. Tolle Spiele eigentlich, nachhaltig, gut organisiert und „freundlich“. So sind sie im kollektiven Gedächtnis verblieben. Als aber die favorisierten heimischen Norweger über 10 Kilometer beim Skilanglauf den Italienern unterlagen, war die Stimmung nicht mehr gar so freundlich. Bei der Siegerehrung, wo sonst den Gewinnern kräftig applaudiert wurde, herrschte eisiges Schweigen. Brasilianer sind also erst mal keine schlechte Ausnahme, der weltweit durchschnittliche Sportfan ist in seinem inneren Wesen eben Patriot. Warum die Leistung der Auswärtigen würdigen, wenn der Lokalmatador Gold gewinnen kann? Wäre unlogisch. Und ums Gewinnen geht es, nicht ums Dabeisein.
In Brasilien sind nun Sportarten (wie Stabhochsprung) betroffen, bei denen Athleten normalerweise nicht ausgepfiffen werden. Wobei woanders die Fans trotzdem auf Heimsiege hoffen. Sie verstecken es aber etwas besser, der Political Correctness wegen. In Brasilien versuchen die Fans erst gar nicht, ihren Wunsch zu verheimlichen. Das kann man unfair finden. Oder ehrlich.
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