Grüne in Nordrhein-Westfalen: Sinnsuche im Umfragetief

Die Grünen regieren in NRW mit, aber es läuft nicht rund. Nach Umfragen ist die Mehrheit weg, die AfD wird zum Problem.

Sylvia Löhrmann spricht in die Mikrofone eines Rednerpultes

Die Spitzenfrau der Grünen steht unter Druck Foto: dpa

KÖLN taz | Es sieht nicht gut aus für die NRW-Grünen. Nicht nur, dass die rot-grüne Regierungskoalition in Umfragen auf keine Mehrheit mehr kommt. Mehr noch: Die AfD macht den Grünen Platz 3 der Wählergunst streitig, mit zwölf Prozent verzeichnet sie den stärksten Zuwachs der vergangenen Monate.

Auf eine „beinharte Richtungswahl“ schwört seither Sylvia Löhrmann, Grünen-Spitzenkandidatin in spe, NRW-Schulministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin, ihre Partei ein. Grünen-Landeschef Sven Lehmann fordert, gegen die Rechtspopulisten „klare Kante zu zeigen“. Das bedeute auch, die Marke „grün“ neu zu denken.

Und so wurde ausgerechnet das bislang stiefmütterlich behandelte Thema innere Sicherheit zum Schwerpunkt des jüngsten Landesparteitags. Der frühere Münsteraner Polizeipräsident, Hubert Wimber, rechnete den Delegierten vor, dass die Polizeistärke in NRW bundesweit den vorletzten Platz belegt und aufgestockt werden muss. Schon zu Jahresbeginn hatte Rot-Grün die Zahl der jährlich einzustellenden Polizeianwärter erhöht: um 500 auf rund 2.400.

Plötzlich sorgen sich die Grünen um das Ansehen der Polizei, fordern auch einen Polizeibeauftragten. Der soll unabhängiger Ansprechpartner für Bürger und Polizisten sein, „eine notwendige Ergänzung, um mehr Transparenz und Bürgernähe herzustellen“.

Überwachung, aber nur ein bisschen

Die innere Sicherheit bleibt ein Drahtseilakt für die Bürgerrechtspartei, die Freiheit und Sicherheit nicht gegeneinander ausspielen will. Etwa bei den Bodycams. Die kleinen Schulterkameras will Innenminister Ralf Jäger (SPD) testweise einführen, um die drastisch angestiegenen Angriffe auf Polizisten einzudämmen.

Zunächst wollten die Grünen diese nur unter strengsten Auflagen an ausgewählten Kriminalitätsbrennpunkten zulassen. Nun werden sie wohl auch in Wohnräumen zum Einsatz kommen. Die Grünen setzten sich nur mit der Forderung durch, die Kameraaufzeichnungen zu verschlüsseln.

Plötzlich sorgen sich die Grünen um die Polizei, wollen mehr Personal

Ähnlich läuft es bei der Videoüberwachung. Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) will sie flächendeckend, auch in Bussen und Bahnen. Die grüne Fraktion mahnt den Daten- und Persönlichkeitsschutz an, bislang mit wenig Erfolg.

Vor zwei Jahren präsentierte sich der Landesverband unter dem Motto „Stadt, Land, Grün“ noch fast ausschließlich als Öko-partei, vor allem in den ländlichen Regionen, wo die Grünen bei den Kommunalwahlen gute Ergebnisse erzielten. Davon ist nicht viel geblieben. Immerhin: Beim Ausstieg aus der Braunkohle drücken sie aufs Tempo, wollen ihn in den nächsten zwei Jahrzehnten – bislang plante Rot-Grün das Ende erst 2045.

Verabschiedet wird das endgültige Wahlprogramm erst im Dezember. Spitzenkandidatin will erneut Sylvia Löhrmann werden. Endgültig entschieden wird darüber im Herbst. Die 59-Jährige ist das bekannteste Gesicht unter den drei grünen Ministern des Kabinetts – die „Nanni“ neben der „Hanni“, so die Spitznamen für das nordrhein-westfälische Politikerinnen-Führungsduo.

Große Koalition am Horizont

Und doch steht Löhrmann derzeit in der Kritik wegen des 2005 eingeführten Turbo-Abis: Eine große Mehrheit der Eltern und Lehrer fordert die Rückkehr zur längeren Schulzeit. Auch bekommt die Inklusion in NRW laut einer aktuellen Studie die Note mangelhaft. Schulpolitik könnte sich noch zum unbequemen Wahlkampfthema für die Grünen auswachsen.

Ein Jahr vor der Landtagswahl stehen die Zeichen auf Große Koalition. Kein anderes Bündnis wäre nach Umfragen derzeit mehrheitsfähig. Grünen-Landeschef Lehmann schließt plötzlich auch ein Bündnis mit der CDU nicht aus. Ein reines Gedankenspiel: Die CDU macht die Grünen verantwortlich für das wirtschaftliche Nullwachstum. Die Grünen wiederum verärgert die Blockade der Konservativen, das Wahlalter in NRW auf 16 Jahre herabzusetzen.

Auch FDP-Chef Christian Lindner hat sich als oberstes Ziel die Ablösung von Rot-Grün gesetzt. Einer Ampelkoalition erteilte er bereits vor Wochen eine Absage. Bliebe die Linke, die 2012 aus dem Landtag flog und derzeit bei rund sechs Prozent in Umfragen liegt. Doch selbst damit würde es für Rot-Rot-Grün nicht reichen. Das Motto des jüngsten Parteitags „Mutig nach vorne“ – es klingt wie ein einsamer Ruf im tiefen Walde.

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