Aus „Le Monde diplomatique“: Rettung für verlorene Bürger
In New York bietet eine ID-Card Papierlosen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Jobs. Das könnte ein Vorbild für die Weltgemeinschaft sein.
Auf der ganzen Welt wächst die Zahl der Menschen, für die in den Ländern, in denen sie leben, keine legale Existenz möglich ist. In Europa droht hunderttausenden Illegalen jederzeit eines der fast 400 Abschiebegefängnisse, die es bei uns gibt.
In China leben mehr als 250 Millionen Binnenmigranten (mingong) als Bürger zweiter Klasse, ohne Zugang zu Bildung und Krankenversorgung; denn sie haben auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben ohne offizielle Erlaubnis ihre Heimatprovinzen verlassen.
In Kanada gibt es Leute, die als „lost citizens“ bezeichnet werden: Oft sind es indianische Ureinwohner, die beim Gesetz über die Staatsbürgerschaft von 1947 nicht berücksichtigt wurden und deshalb in ihrem eigenen Land Staatenlose sind. In einer ähnlichen Situation sind die Bidun („ohne“, gemeint ist: „ohne Staatsbürgerschaft“) in Kuwait oder Bahrain, Einwohner überwiegend beduinischen Ursprungs, die sich nach der Unabhängigkeit 1961 nicht bei den Staatsbürgerschaftskomitees haben registrieren lassen.
In den baltischen Staaten werden russische oder russischstämmige Bewohner zum Teil als Nichtbürger angesehen, abgelehnt und ausgegrenzt (in Lettland betrifft das mehr als 15 Prozent der Einwohner). Das letzte Beispiel ist Bosnien, wo alle, die sich weigern, zu einer der drei Gemeinschaften (muslimische Bosniaken, orthodoxe Serben oder katholische Kroaten) gezählt zu werden, einfach „die anderen“ heißen und nicht alle politischen Rechte genießen.
Städtische ID-Card
Die Situationen sind natürlich sehr unterschiedlich. Auch wenn Flüchtlinge in den Zufluchtsstaaten Europas in den Augen der Behörden keinen Aufenthaltstitel haben, besitzen sie doch eine Staatsbürgerschaft, anders als die juristisch staatenlosen “lost citizens“ oder die Bidun. Eines jedoch haben sie alle gemeinsam: Weil ihnen die nötigen Dokumente fehlen, enthält man ihnen viele politische, wirtschaftliche und soziale Rechte vor.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version). Das komplette Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe finden Sie unter www.monde-diplomatique.de.
Bill de Blasio, der Bürgermeister von New York, hat eine originelle Initiative ergriffen, um den Papierlosen in seiner Stadt (schätzungsweise 500 000) eine legale Existenz zu ermöglichen. Seit Januar können sie eine städtische ID-Card erhalten, die ihnen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (Bibliotheken, Krankenhäusern und anderen) gewährt, aber auch zu Banken und anderen Einrichtungen, bei denen man sich ausweisen muss. Mit dieser Karte können sie sich auch um eine legale Arbeitsstelle bewerben, gratis eine von etwa 30 kulturellen Einrichtungen (etwa den Botanischen Garten in Brooklyn oder das Metropolitan Museum of Art) besuchen, Preisnachlässe für Medikamente erhalten und anderes mehr.
Die im Juni 2014 vom Stadtrat beschlossene städtische ID-Card wurde begeistert aufgenommen: Schon in den ersten Tagen des neuen Jahres haben sich Tausende dieses Dokument ausstellen lassen, das fünf Jahre gültig ist. De Blasios Idee erinnert an den Nansen-Pass, den der Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg ausgab und der den Namen von seinem Erfinder, dem Norweger Fridtjof Nansen, bekommen hat.
Der Wissenschaftler und Polarforscher, Diplomat und Politiker, Visionär und Humanist leitete ab 1920 die norwegische Delegation beim Völkerbund. Er wurde beauftragt, die Repatriierung von 450 000 Kriegsgefangenen (die erste humanitäre Aktion des Völkerbunds) zu organisieren. Nachdem er diese Aufgabe erfolgreich gelöst hatte, wurde Nansen 1921 Hochkommissar des Völkerbunds für Flüchtlinge.
Der Nansen-Pass
Danach widmete er sich den Hunderttausenden durch den Krieg entwurzelten Menschen: aus ihrem bisherigen Land verjagte und nach Ungarn geflüchtete Magyaren, armenische Überlebende des Völkermords; aus Griechenland vertriebene Muslime; Christen, die aus der Türkei hatten fliehen müssen und viele andere. Nansen erkannte, dass ein Grundproblem all dieser Menschen das Fehlen international anerkannter Dokumente war.
Er erfand deshalb einen Pass, der ein oder zwei Jahre gültig war und verlängert werden konnte. Er war das erste juristische Instrument, das im Rahmen des internationalen Schutzes von Flüchtlingen genutzt wurde. Für diese Idee bekam Nansen 1922 den Friedensnobelpreis. Auch das Internationale Nansen-Büro für Flüchtlinge erhielt im Jahr 1938 diese Auszeichnung.
Der Nansen-Pass wurde in der Zwischenkriegszeit für etwa 450 000 Personen ausgestellt: vor allem Russen auf der Flucht vor Hunger und Bürgerkrieg, die nach einem Dekret vom Dezember 1922 staatenlos geworden waren und Angehörige der früheren Minderheiten im Osmanischen Reich, aber auch viele andere. Unter ihnen findet man auch Persönlichkeiten wie die russische Ballerina Anna Pawlowa, den Komponisten Igor Strawinski, den Maler Marc Chagall, den Schriftsteller Vladimir Nabokov oder den Fotografen Robert Capa.
Dank diesem Dokument konnten sie frei reisen, hatten Rechte und die Möglichkeit, schließlich in ihrem Aufnahmeland heimisch zu werden. Der Nansen-Pass verschwand mit dem Völkerbund. Die UNO sollte sich davon inspirieren lassen und den heute mehr als 10 Millionen Staatenlosen auf der Welt eine legale Existenz und grundlegende Rechte geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste