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Archiv-Artikel

Ein deutscher Sozialromantiker

Hans-Werner Sinn ist Deutschlands bekanntester neoliberaler Ökonom. Normalerweise schimpft er über zu hohe Löhne und zu starke Gewerkschaften. Jetzt hat er sich mit Porsche angelegt. In seiner Welt geht das problemlos zusammen. Ein Besuch

Sinn will Deutschland nicht schlecht machen. Er will es wieder gut machen

AUS MÜNCHEN ROBIN ALEXANDER

Die Fenster stehen auf kipp in der feinen Akademie der Münchener Industrie- und Handelskammer, denn der November tut heuer, als gehöre er zum Frühling. Die zum „ifo-Branchen Dialog“ versammelten Ministerialbeamten und oberbayerischen Mittelständler freuen sich über das ungewöhnlich milde Wetter und noch mehr über die ungewöhnlich guten Konjunkturdaten. „Deutliche Aufschwungsignale“ hat das Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (kurz ifo) ermittelt, „positive Tendenz im Außenhandel“, und – endlich, endlich – wird auch wieder mehr investiert.

Dann tritt Professor Hans-Werner Sinn ans Pult, lächelt freundlich und bittet, bevor er die Daten im Einzelnen erläutern werde, erst eine Geschichte von Klein-Fritzchen erzählen zu dürfen. Und die geht so:

Fritzchen kommt mit seinem Zeugnis nach Hause und sagt der bangen Mutter, er habe eine gute und eine schlechte Nachricht. „Was ist die gute Nachricht?“, fragt die Mutter. „Ich bin versetzt worden“, sagt Fritzchen. Die Mutter seufzt erleichtert auf. „Und was ist die schlechte Nachricht?“ – „Es stimmt nicht.“

Im Saal lachen nur wenige. Die eigentliche Pointe kommt auch noch. „Wie mit Klein-Fritzchen ist es auch mit Deutschland“, sagt Sinn und lächelt nicht mehr: „Und die gute Nachricht ist die Konjunktur.“

Auf die käme es nämlich gar nicht an, denn Deutschland habe ein Strukturproblem, führt Sinn aus. Die Zuhörer nicken traurig. Während Sinn per Powerpoint ins Detail geht, schließt jemand geräuschlos die Fenster. Der Herbst ist wieder der Herbst.

Gute Nachrichten sind nicht das Metier von Hans-Werner Sinn. „Manchmal fühle ich mich selbst wie die Kassandra Deutschlands“, sagt der 57-Jährige über seine öffentliche Rolle. Aber während die mythische Seherin den Untergang Trojas vorhersagte, ohne Gehör zu finden, hat Sinn durchaus Publikum, wenn er den Untergang Deutschlands prophezeit.

Er ist der meistzitierte Ökonom der Republik. Der Bundespräsident empfiehlt sein Modell der „aktivierenden Sozialhilfe“. Sein letztes Buch, „Ist Deutschland noch zu retten?“, erschien in sechs Auflagen und als Taschenbuch. Sein neuestes Werk „Die Basarökonomie“ hat ihm eine Menge neuer Feinde eingebracht – in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft.

Auf der Straße, so behauptet Sinn zumindest, überwiege der Zuspruch. Als Experte ist er so oft bei „Christiansen“, im „heute journal“ und im „Mittagsmagazin“, dass er regelmäßig angesprochen wird: Niemand sonst im Fernsehen trägt so einen altmodischen Backenbart. Und niemand sonst predigt so entschlossen wie Sinn: Die Macht der Gewerkschaften muss gebrochen werden. Der Sozialstaat muss um- und rückgebaut werden. Das neoliberale Einmaleins.

„Ich bin kein Neoliberaler“, widerspricht Sinn. „Jeder, der ökonomische Theorie in die Öffentlichkeit trägt und dabei auf Sozialromantik verzichtet, wird in Deutschland als neoliberal stigmatisiert.“ Den antigewerkschaftlichen Reflex, den ihm Kritiker unterstellen, habe er mitnichten. Er hat sich sogar einmal vergeblich um eine Stelle beim DGB beworben, 1972, direkt nach seinem Diplom. Seitdem ist sein Mantra, die hohen Löhne seien die Ursache der deutschen Krise, natürlich Munition für die Arbeitgeber. DGB-Chef Michael Sommer nennt ihn böse einen „Problemverschärfer“, Linkspopulist Oskar Lafontaine verspottet ihn als „Professor Unsinn“. Neu ist etwas anderes: Der Angebotstheoretiker bekommt Dresche von Managern und Unternehmern. Vom erfolgreichsten deutschen Unternehmen sogar. Sinn hat sich vor allem mit Porsche angelegt. Schuld ist seine Theorie vom Basar.

Und die geht so: Warum verdienen deutsche Industrieunternehmen so gut und bauen gleichzeitig Arbeitsplätze ab? Weil sie gar keine echten deutschen Industrieunternehmen mehr sind, meint Sinn. Still und heimlich haben sie immer mehr Stufen der Produktion ins Ausland verlagert. Vor allem im exkommunistischen Osten wird geschweißt, gelötet und lackiert. In Deutschland werden nur noch die fertigen Teile montiert und das Ganze dann auf den Weltmarkt gebracht. Deshalb boomt die deutsche Industrie und entlässt gleichzeitig ihre Arbeiter. Deutschland ist bald kein Industrieland mehr, sondern ein Umschlagplatz mit angeschlossenem Sozialstaat: eine „Basar-Ökonomie“. Sinn hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie „Made in Germany“ zum Etikettenschwindel verkommt.

Was haben die Sportwagenbauer damit zu tun? Porsche ist Sinns einziges Beispiel auf 247 Seiten. Genauer: Der Porsche-Cayenne. Dieses teure Spielzeug (als Turbo mit 450 PS schon ab 101.913 Euro zu haben) lassen die Zuffenhausener Autobauer in Leipzig produzieren. „Wirklich?“, fragt Sinn. Denn die Karosserie wird aus Bratislava angeliefert. Auch Motorkomponenten kommen aus dem Ausland. Vor allem US-Amerikaner kaufen den Cayenne. Ihnen wird – Sinns Logik zufolge – ein vor allem osteuropäisches Produkt als deutsche Wertarbeit angedreht. Das Management hat verständlicherweise wenig Interesse daran, dass sich das herumspricht.

Porsche wehrt sich. Sinn wolle „den Standort Deutschland partout schlecht reden“, schreibt der Kommunikationsdirektor des Konzerns in der FAS. Sinn verfüge gar nicht über aussagefähige Daten. Porsche rückt die Daten aus durchsichtigen Gründen nicht heraus, schimpft der Professor gekränkt zurück.

Sinn gegen Porsche. Porsche gegen Sinn. „Eine Schlammschlacht“ (Financial Times), die sich normalerweise weder Großindustrie noch Wissenschaftler leisten. Sinn schon. Er tut es sogar gern. Denn er hat gelernt, dass man auch im Gegenwind vorankommen kann. „Als einziges Arbeiterkind und als Einziger vom Dorf“ war er schon etwas Besonderes in seiner Bielefelder Abiturklasse. Im Studium – als seine Kommilitonen den Aufstand gegen die Eltern probten – fuhr Sinn eines der beiden Taxis, die sein Vater nach langem Sparen hatte anschaffen können. Als es Mode war, Marx zu skandieren, hat Sinn ihn kritisch gelesen und erkannt, dass „die unsichtbare Hand des Marktes jedem Planer überlegen ist“. Auch seinen Durchbruch als Ökonom hat er auf scheinbar verlorenem Posten errungen: 1991 prophezeite er im gemeinsam mit seiner Frau verfassten Buch „Kaltstart“ das ökonomische Scheitern der deutschen Vereinigung. Heute ist seine Kritik an Kohl und Treuhand Allgemeingut. „Aber damals wurden wir beinahe wie vaterlandslose Gesellen behandelt. Die Leute wollten es einfach nicht wahrhaben. So wie sie heute die Basarökonomie nicht wahrhaben wollen.“

Niemand sonst predigt so entschlossen wie Hans-Werner Sinn

Sinn streitet für Niedriglöhne und gegen den bestverdienenden Manager der Republik: Porsches Wendelin Wedekind. Sinn behauptet, er gebe nur seine professionelle Beobachtung wieder, und Porsche sei nur ein beliebiges Beispiel. Aber die Verve seiner Argumentation verrät den Überzeugungstäter: „Wer wie Wedekind selbst in der Slowakei produziert, kann leicht behaupten, in Deutschland gebe es kein Lohnkostenproblem. Das wollte ich aufspießen.“

Die Kritik, die jetzt auf ihn einprasselt, ficht Sinn nicht an. „Jeder Insider weiß, dass Porsche mit seiner Reaktion im Unrecht ist.“ Leicht beeinflussbar ist er sowieso nicht. Seit zwanzig Jahren lebt er in München, noch länger ist er mit einer Fränkin verheiratet. Aber noch immer dehnt er die Vokale, als sei er gerade erst aus Westfalen angekommen. Sinn ist authentisch.

Doch seine Attacke auf den vermeintlichen Basar kostet ihn Reputation – nicht nur beim Spitzenmanagement, sondern auch unter den Kollegen. „ ‚Basarökonomie‘ ist einer der absurdesten Ausdrücke, die ich mir in unserem Fach überhaupt vorstellen kann“, sagt Peter Bofinger aus dem Sachverständigenrat, der die Bundesregierung berät. „Sinn verbiegt sich die Welt vereinfachend so lange, bis sie passt“, schreibt Klaus Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Bofinger und Zimmermann waren nie Freunde von Sinn und seinen Ansichten. Die Schärfe ihrer Kritik ist neu.

Auch das neoliberale Handelsblatt meint, Sinn habe sich diesmal verrannt. Tatsächlich erinnert der Begriff „Basar“ an Tand und Trödel oder den Orient und trägt kaum zur Aufklärung über moderne Phänomene der internationalen Arbeitsteilung bei. „Ich hätte Kaufladen statt Basar schreiben können“, gesteht Sinn zu, „aber Kaufladen-Ökonomie wäre als Begriff zu lang.“ Außerdem wollte er den negativen Unterton. Er schätzt nämlich deutsche Wertarbeit. Persönlich könnte er sich selbstverständlich einen Cayenne leisten oder sogar einen 911er. Aber er fährt einen Mercedes. Baujahr 1991. „Das ist noch ein schöner Wagen. Der läuft und läuft. Und ist er doch einmal kaputt, kann man ihn reparieren, denn da ist noch nicht so viel Elektronik drin.“

Der Vorwurf, Sinn wolle Deutschland schlecht machen, trifft nicht. Er will es gut machen. Wieder gut. In Deutschland soll es Autos geben, die noch Autos sind. Arbeiter, die noch Arbeiter sind. Und eine Industrie, die noch eine echte Industrie ist – und kein Basar. Sinn, der sich so gern auf die kühle Professionalität des Ökonomen zurückzieht, ist in Wahrheit ein Sozialromantiker der ganz eigenen Art.

Das Reformprogramm, das er Deutschland empfiehlt, ist eine Reise zurück in die gute alte Zeit. Im eigenen Laden hat er es schon einmal vorexerziert. Als ifo-Präsident musste er zuerst 30 Prozent Mittelkürzung exekutieren. Dann hat er die Struktur entschlossen umgebaut. „Rücksichtslos“, sagen Mitarbeiter, die damals gehen mussten. Nicht einmal vor der Architektur machte Sinn Halt. Weil er einen schmucklosen Flachbau aus den 70ern nicht einreißen konnte, verpasste er ihm wenigstens ein neues Giebeldach. Das war nicht billig und ein Stilbruch, den die Baukommission und ein Architekt aus der Nachbarschaft verhindern wollten – vergeblich. Aber heute zeigt Sinn stolz sein neues Dach. Ein Haus, das endlich wie ein Haus aussieht. Typisch Sinn. In derselben Straße gab es bis vor kurzem noch eine Baustelle: Die Münchner Villa von Thomas Mann ist gerade frisch restauriert worden. „So etwas Schönes“, seufzt Sinn „kann heute keiner mehr bauen.“