: Ein Slum in Quarantäne
Aus Kücükcekmece JÜRGEN GOTTSCHLICH
Murat Yildiz ist traurig. „Gestern Morgen“, erzählt er, „haben sie alle meine 21 Hühner abgeholt. Die waren alle gesund. Ich verstehe das nicht. Was sollen wir jetzt essen?“ Unsicher zeigt er auf die Hütten um uns herum. „Wir“, das sind die Bewohner der Ziya Gökalp Mahale, einem Slumviertel an der Peripherie der 14-Millionen-Metropole Istanbul. Seit Anfang der Woche steht das vor rund zehn Jahren illegal errichtete Dorf unter Quarantäne.
Hier wurden die ersten von der Vogelgrippe befallenen Hühner im Großraum Istanbul entdeckt. Das Zentrum von Ziya Gökalp, wo Murat Yildiz uns sein Leid klagt, besteht aus windschiefen Hütten, die wegen des seit Tagen anhaltenden Regen immer mehr im Schlamm versinken. Rund 10.000 Leute fristen hier ihr Dasein mehr schlecht als recht. Im Müll wühlen ein paar Ziegen, die das gerade beendete Opferfest glücklich überlebt haben. Eine Schar Kinder tobt herum, begeistert, dass in ihrem Dorf endlich mal was los ist.
Zwei Fahrzeuge der Stadtverwaltung stehen am Rand der Siedlung, von wo eine von Schlaglöchern übersäte kleine Straße den Hügel hinab ins „Dorf“ führt. Die Mitarbeiter des Veterinäramtes des Istanbuler Bezirks Kücükcekmece sind die Außenposten des Gebietes, das der Gouverneur für insgesamt 21 Tage unter Quarantäne stellte. „Wir halten hier alle Autos auf und desinfizieren sie“, erklären die Männer ihren Job.
Ansonsten kann jede und jeder das Gebiet unbehelligt betreten und auch wieder verlassen. Doch außer den in Schutzanzügen vermummten Angestellten der Stadtverwaltung, bekommen die Bewohner der Ziya Gökalp in diesen Tagen kaum Besuch. Selbst Taxifahrer meiden die Gegend und setzen ihre Kunden lieber an der Hauptstraße ab – außerhalb des Quarantänegebiets.
Das Zentrum der Vogelgrippe ist umringt von Hügeln, auf denen gerade moderne Apartmenthäuser hochgezogen werden. „Spätestens in sechs Monaten“, hatte uns Bezirksbürgermeister Aziz Yeniay mit auf den Weg gegeben, wird diese Siedlung verschwunden sein und werden dort ebenfalls Baugruben für moderne Hochhäuser ausgehoben. Schließlich ist Kücükcekmece ein prosperierender Vorort der Metropole, wo in Sichtweite des Slums vor ein paar Jahren erst das Olympiastadion gebaut wurde und auch das olympische Dorf entstanden wäre – wenn Istanbul statt Peking vom IOC den Zuschlag bekommen hätte.
Für den jungen, dynamischen Bürgermeister Yeniay ist die Vogelgrippe hauptsächlich ein Imageproblem, das den Ruf seines Stadtteils ruinieren könnte. Er hofft, mit der Beseitigung des Schandflecks auch das Problem beseitigen zu können.
Die illegale Siedlung ist wie ein Fremdkörper im modernen Kücükcekmece – und genauso ist die Vogelgrippe für Yeniay ein Signal aus einer anderen Welt. „Die infizierten Hühner wurden bei einer Familie aus Kars entdeckt“, sagt er. Sie haben sie von dort, aus dem tiefsten Osten, mitgebracht. Kars ist der Ort nahe der armenisch-georgischen Grenze, in dem Orhan Pamuks Roman „Schnee“ spielt und der als Synonym für Rückständigkeit gilt.
Etwas gehetzt und offensichtlich ziemlich unter Stress stehend, nimmt uns der Chef der Veterinärabteilung von Kücükcekmece, Kadir Bulut, am Rande der Siedlung in Empfang. Seit Montag sind seine Leute nun dabei, die Hühner hier einzusammeln und zu vernichten. Über 2.000 hätten sie mittlerweile abgeholt, das Zentrum des Quarantänegebiets „ist jetzt sauber“, verkündet Bulut stolz.
„Es gab etliche Leute die ihre Hühner zunächst versteckten, aber jetzt kooperieren alle“, behauptet Kadir Bulut. Er hat 25 Leute zur Verfügung, die von Haus zu Haus gehen, mit den Leuten reden und notfalls die Hühner auch im Garten einfangen. An einer Straßenecke stehen drei von Buluts vermummten Gestalten mit Säcken in der Hand, in denen die gerade eingefangenen Hühner zappeln. Die Vermummten warten auf einen Lieferwagen, der die Fracht abholen soll. In Kücükcekmece werden alle Hühner zu einer Sammelstelle gebracht, wo man sie mit Kohlenmonoxid einschläfert. Bilder wie aus Kayseri, wo Hühner verbrannt oder lebendigen Leibes verbuddelt wurden, wird es hier nicht geben, versichert der Veterinärchef.
Anfangs wollten viele Leute ihre Hühner nicht abliefern. Aus verschiedenen Gründen. Einige wollten ihre Haustiere aus sentimentalen Gründen nicht ausliefern – für Murat Yildiz und seine Familie waren sie das einzige Fleisch auf dem Tisch. „Als sie kamen, um meine Hühner zu holen, war ich nicht zu Hause“, erzählt er. „Meine Frau spricht nur Kurdisch, deshalb haben wir jetzt keine Quittung und bekommen auch keine Entschädigung.“ Eigentlich stünden ihm 5 Lira, das sind rund 3,50 Euro, pro Huhn zu. „Seit sich herumgesprochen hat, dass wirklich 5 Lira pro Huhn als Entschädigung gezahlt werden, können wir uns vor Anrufen kaum noch retten“, stöhnt dagegen Veterinär Kadir Bulut, „viele Leute behaupten nun, ihre Hühner seien krank, auch wenn das gar nicht der Fall ist.“
Während Bulut, genau wie sein Chef, Bürgermeister Yeniay, überzeugt ist, das Problem im Griff zu haben und eine weitere Ausbreitung der Vogelgrippe verhindern zu können, stehen die meisten Bewohner der Slumsiedlung dem ganzen Treiben nach wie vor kopfschüttelnd gegenüber. Einer von ihnen ist Abbas Kurt. Er kommt aus Siirt im Südosten, nahe der irakischen Grenze. Er ist, wie alle anderen Bewohner von Ziya Gökalp, Kurde. Abbas Kurt versteht die Aufregung nicht so ganz. „Sicher“, sagt er, „meine Hühner sind auch gestorben. Aber schon vor einem Monat.“ Innerhalb von zwei Wochen waren alle seine 12 Hühner tot. „Ihr Kamm wurde schwarz, sie bekamen tränende Augen und wollten nicht mehr fressen.“
Für Abbas Kurt war das zwar schmerzlich, aber nicht so ungewöhnlich. Vor ein paar Jahren, erzählt er, „waren meine Hühner schon mal krank. Das passiert immer mal wieder.“ Deshalb dachte auch niemand in der Siedlung zu diesem Zeitpunkt daran, einen Tierarzt zu holen. Sie kannten auch gar keinen. Und dass es bei der Stadtverwaltung eine Telefonhotline gibt, an die sich besorgte Bürger wenden können, das wissen sie bis heute nicht. Noch immer hat niemand die Leute hier persönlich über die Risiken der Vogelgrippe aufgeklärt. Während in den betroffenen Orten im Osten der Türkei mittlerweile Lautsprecherwagen durch die Dörfer fahren und auch die Leute auch auf Kurdisch informieren, bleiben die Bewohner von Ziya Gökalp sich weiterhin selbst überlassen.
Entgegen den Berichten der Leute von Ziya Gökalp glaubt Veterinär Kadir Bulut dennoch nicht, dass das Virus schon länger in der Türkei heimisch ist. „Wir haben es zum ersten mal im Oktober letzten Jahres in der Geflügelfarm bei Bursa identifiziert“, ist er sicher. „Wenn wir die betroffenen Gebiete isolieren und das Geflügel vernichten, vernichten wir auch das Virus.“ Auch Bulut geht davon aus, dass die Vogelgrippe in Kücükcekmece ein Problem der Binnenmigration ist. „Die Leute haben krankes Geflügel aus dem Osten eingeschleppt.“
Auf dem Rückweg kommen wir durch eine Siedlung, die schon etwas außerhalb des Quarantänegebiets liegt, hier stehen schon etwas bessere Häuser. Da spricht uns ein junges Ehepaar an und fragt, ob wir von der Stadtverwaltung seien. Sie warten seit dem frühen Morgen darauf, dass ein Veterinär kommt, um ihre Hühner zu holen.
Die beiden haben bei der Stadt angerufen, weil drei ihrer acht Hühner alle Symptome der Vogelgrippe zeigen. Die jungen Leute sind informiert, kennen die Gefahr und wollen die Hühner loswerden – doch niemand kommt, um die Tiere zu holen. Vermutlich denkt Veterinärchef Kadir Bulut, die beiden wollten nur die 5 Lira kassieren. Oder aber seine Truppe ist einfach überfordert, auch den Verdachtsfällen außerhalb des Quarantänegebiets nachzugehen. Schließlich kann man nicht überall gleichzeitig sein.
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