Slums in Madagaskar: Kein Abgrund, ein fernes Land

Sie gelten als urbane Hölle, aber sie zeigen auch den kreativen Umgang mit knappen Ressourcen. Ein Spaziergang durch eine Welt aus morschen Bretterbuden in Antananarivo.

Anatananarivo, Madagaskar Bild: dpa

Wir fahren nach Süden, in die Vororte Antananarivos, der Hauptstadt Madagaskars. Links und rechts der Straße Armenviertel, Blick auf Hütten aus Sperrholz, Blech und Sackleinen, auf verdreckte Kanäle und Müllhalden im Sonnenschein. Der Verkehr fließt zäh. Lastwagen rumpeln vorüber, ramponierte Kleinwagen kämpfen um den knappen Asphalt, Rikschas und Ochsenkarren schieben sich durch Staub und Abgase. Der Junge geht auf dem Mittelstreifen. Zerlumpt sieht er aus. Immer wieder bleibt er stehen, drückt mit dem Daumen auf die Kehle, stülpt die Lippen nach außen und keucht. Er kommt näher. Man wird unruhig, man will das Keuchen nicht hören. Aber jetzt ist er ganz nah und sieht einen an, und man ist angekommen, alles ist Gegenwart: Afrika, Armut, der Slum.

Konfrontation mit Armut als Schock. Die ersten Reaktionen sind Ekel, Bestürzung und Mitleid.“ Der widerlichste Auswuchs menschlicher Verkommenheit“, so die Worte amerikanischer Stadtverwaltungsbeamter des 19. Jahrhunderts über ein lokales Elendsviertel. Der Slum der Neuzeit, Kind der Industrialisierung, wurde in Großbritannien geboren, dehnte sich in der westlichen Welt aus und trat im Laufe des 20. Jahrhunderts seinen Siegeszug auch in kaum industrialisierten Ländern an. Die Vorurteile gegen die Armenviertel blieben. Dem englischen Bürgertum galt der Slum als Herd von Krankheit, Aufruhr und Revolte.

Sensationsberichterstattung über die „kaum vorstellbaren“ Verhältnisse in den Armenvierteln bildete ein vorübergehend äußerst erfolgreiches journalistisches Genre. Der Slum war die faszinierende, abstoßende Fremde im vertrauten Stadtbild, ein Ausland im eigenen Land. Während der europäische Slum als provozierende Abweichung von der Norm betrachtet wurde, gelten die Armenviertel der Entwicklungsländer heutzutage als Symbol für Urbanität in der sogenannten Dritten Welt schlechthin. Wie seine Vorfahren erscheint der moderne Slum des Südens als Ort der Hoffnungslosigkeit und des Elends, als urbane Hölle. Ein Abgrund am Rand der Weltgesellschaft.

Der Stau löst sich auf, es geht voran. 85 Prozent der madagassischen Bevölkerung leben mit weniger als zwei Dollar pro Tag. Die Armut manifestiert sich in ständig wachsenden Slums, die meist spontan und ohne rechtliche Absicherung auf unbebauten Flächen errichtet werden. Wir parken das Auto am Rand des Armenviertels. Befahrbare Straßen gibt es hier nicht. Die letzten Meter bis zur Hilfsorganisation Nehemia gehen wir zu Fuß, hinein in das Gewirr aus Hütten und schimmligen Häusern, das sich vor uns erstreckt. „Die Armen kommen in die Stadt ohne genaue Vorstellungen davon, welche Arbeit man hier finden kann“, sagt Raharijaona „Zaka“ Andriambonokizaka, Präsident von Nehemia. „Und sind sie erst mal hier, bleiben sie auch.“ Wir sitzen im leeren Seminarraum des Hilfswerks, die Tür zur Straße steht offen, herein schauen dreckige, verrotzte Kinder in Lumpen. Sie rufen „Vazaha“, das heißt „Weißer“, sie lachen, verstecken sich, trauen sich wieder hervor, zeigen auf uns und amüsieren sich wie die Könige. „Das Entscheidende ist, wie die Armen mit ihrer Lage umgehen“, sagt Zaka. Die Slumbewohner sind keine einförmig Masse, sondern eine heterogene soziale Gruppe, die durch feine Unterschiede und bewusste Distinktionen gekennzeichnet ist.

Oben der Rova-Palast, unten die Hütten Bild: David Herzog

„Quatre M“ nennen die Armen diejenigen, die jede Selbstachtung aufgegeben haben. Die vier M stehen für die madagassischen Ausdrücke für „arm“, „dreckig“, „stinkend“ und „bettelnd“. Die Abgrenzung nach unten zeigt, dass die meisten Slumbewohner ihre Situation nicht hinnehmen wollen. Sie sind nicht apathisch, sondern initiativ und innovativ.

An einer Straßenecke sitzt Rachel. Vor ihr auf einer Decke liegen die Metallsiebe, die sie verkauft. Das sind eigentlich Maschinenteile, sie lassen sich aber im Haushalt vielfältig anwenden. Etwa 20 Cent verdient sie am Tag, das ist nicht viel und nicht wenig. Früher galten Rachel und ihr Mann René als Quatre M. Dann fand die Familie Hilfe bei Nehemia. Man zeigt ihnen, wie man wirtschaftet, wie man Behördengänge übersteht, welche Rechte einem zustehen. René baut ein kleines Gemüsegeschäft auf, eine Tochter kann zur Schule geschickt werden. Rachel fängt an, die Siebe auf der Straße zu verkaufen. Und sie dekoriert ihre Hütte mit schönen Dingen, die sie gefunden hat, einer kleinen Fotografie zum Beispiel. Das eigene Leben ist zu etwas geworden, was man bewusst gestalten kann.

Sozialen Aufstieg gibt es im Slum, Unternehmertum und Marktnischen. Ökonomische Systeme entspannen sich beispielsweise um die Beschaffung und den Austausch von Waren, die von anderen weggeschmissen werden. Müllsuchen ist Dienstleistung. Nichts bleibt ungenutzt. In einer Gasse steht ein Sportwagen. Er war einmal feuerrot, jetzt ist er zur Hälfte im Boden versunken, die Räder fehlen, die Armaturen sind entfernt worden. Runde Löcher, wo früher Geschwindigkeit und Drehzahl angezeigt wurden. Alles Nutzbare wird abmontiert und genutzt, das Auto verschwindet nach und nach. „Kompostierung“ eines Industrieprodukts. Informelle Dienstleistungen sind in den Slums weit verbreitet. Wäsche muss gewaschen, Rasen gemäht, Schuhe müssen geputzt werden. Waren sollen von hier nach dort gelangen, dafür gibt es Rikschas und Karren, das ist Logistik. Arbeit in Fabriken und auf dem Bau verspricht den Aufstieg aus dem informellen in den formellen Sektor.

Von Straßenkindern handgefertigtes Blechspielzeug aus Getränkedosen, die sie im Müll finden Bild: dpa

Die Welt der Armen ist verflochten mit der Welt der Reichen. Der formelle Sektor würde ohne informelle Arbeit nicht funktionieren. Die Slums erfüllen somit eine wichtige ökonomische Funktion: Sie liefern erschwinglichen Wohnraum für die Mittellosen. Slums als Lösungen urbaner Probleme. Die Stadt bietet höheres Einkommen, umfangreichere Bildungschancen und bessere Gesundheitsversorgung als das Land. Darüber hinaus sind Slums soziale Orte. Das Leben spielt sich auf der Straße ab. In der Regel verfügen die Bewohner innerhalb ihres Viertels über ein reichhaltiges soziales Beziehungsnetz aus Verwandten, Nachbarn und Bekannten. Spaziergang durch eine Welt aus morschen Bretterbuden, baufälligen Häusern und sandigen Gassen. Kanäle durchziehen das Viertel, verdreckt wie offene Kanalisation, die Siele verstopft mit Plastikmüll. Ein marodes Venedig, eine Stadt aus grün, blau und braun verschimmelten Mauern, die sich aus brackigem Wasser erhebt. Hühner scharren, Hunde stöbern, Jugendliche spielen auf einer schlecht gestimmten Gitarre, Erwachsene arbeiten, verhandeln, verkaufen, Alte stehen in Gruppen und reden.

Der Slum, diese physische Dimension der Armut, präsentiert sich ungesund und verschmutzt, aber nicht elend. Der Slum als bewusst gestalteter Raum, als Ausdruck des rationalen Umgangs mit knappen materiellen Ressourcen. Seine Bewohner keine Opfer, sondern Akteure. Was wir gesehen haben: einen toten Hund. Was wir nicht gesehen haben: Fatalismus.

Weltweit soll beinahe eine Milliarde Menschen 2005 in Slums gewohnt haben: jeder dritte Stadtbewohner der Erde, jeder sechste Mensch. Die kommenden Städte, so der amerikanische Soziologe Mike Davis, werden "nicht aus Glas- und Stahlkonstruktionen bestehen, sondern eher aus grobem Backstein, Stroh, recyceltem Plastik, Zementblöcken und Abfallholz". Was die industrialisierten Gesellschaften hervorgebracht haben an Werten, Regeln und Tabus, wird in den Armensiedlungen des Südens verhöhnt.

Der Slum ist ein Negativ der bürgerlichen Ordnung: Die ideelle Trennung von Kindheit und Erwachsenenalter sowie das damit verbundene Verbot der Kinderarbeit gelten nicht. Traditionelle Berufsbilder, Arbeitsethos und Karriereplanung lassen sich in der informellen Ökonomie nicht wiederfinden. Arbeitszeit und Freizeit fallen ineinander. Die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verschwimmt. Der Kern unserer Gesellschaft wird infrage gestellt: das Heiligtum des Besitzrechts. Die viel gerühmte Flexibilität, Spontaneität und Kreativität der Habenichtse beruhen auf einer Flüchtigkeit der Besitzverhältnisse, die uns schwindeln lässt wie am Rand eines Abgrunds.

Es ist weniger der materielle Mangel als die radikale Abweichung von unserer Gesellschaftsordnung, die den Slum so ungeheuerlich erscheinen lässt. Antiurbanes Ressentiment, so darf vermutet werden, komplettiert die Imagination des Slums als moderner Hölle auf Erden. Unsere heftige Reaktion auf die städtische Armut ist vor allem Ausdruck von Ängsten und Befindlichkeiten.

Rachel hat uns zu ihrer Hütte geführt. Ein Gebilde auf Stelzen, montiert aus Holzlatten, Bastmatten und Plastikplanen, eine Architektur des Mangels, zerrupft wie ein Geier. Nur ein einziger starker Regenguss, und der kleine Tümpel nebenan überschwemmt hier alles. Wie ein Wrack ragt die Hütte dann aus dem Wasser. Das auszuhalten, dafür ist sie gebaut. Der einzige Raum der Hütte misst nicht mehr als zweimal drei Meter. Ein Bettchen, ein Kissenlager, ein Tisch, dazwischen Hühner, an der Wand die kleine Fotografie. Hier wohnen zwei Erwachsene und vier Kinder. Die Hühner gackern, es wird geschwiegen. Wie Wesen auf unterschiedlichen Planeten, so nah sind wir uns. Der Slum: kein Abgrund, ein fernes Land.

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