Attac kapert "Die Zeit": Eine "Zeit", die ihrer Zeit voraus ist
Am Sonnabend erschien eine seltsame Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" - voll von guten Nachrichten - aber zu gut, um wahr zu sein. Es ist eine Fälschung.
BERLIN taz Seit wann erscheint die Zeit am Samstag? Und wieso wird sie auf der Straße verteilt? Und das auch noch kostenlos? Aufschluss bringt erst die Lektüre: "Erinnern Sie sich noch an letztes Jahr?", fragt ein Artikel auf der Seite 1 dieser seltsamen und seltsam dünnen Zeit: "Die Banken gehörten noch den Aktionären, Afghanistan den Militärs und die Straßen gehörten den dicken Autos. Die Reichen waren noch reich, die Armen arm, und niemand glaubte ernsthaft, dass sich daran etwas ändern könnte."
Hier dämmert selbst dem naivsten Leser, dass diese Zeitung nur als trojanisches Pferd dient. Dahinter steckt tatsächlich das globalisierungskritische Netzwerk Attac, das diesen Coup von langer Hand vorbereitet hat.
150.000 Exemplare der gekaperten Zeit werden heute in 90 deutschen Städten verteilt. Und natürlich gibt es auch eine Onlineausgabe. Auf der Website die-zeit.net kann man sich auch die komplette Zeitung als pdf herunterladen.
Optisch gleicht die Fälschung der Zeitung dem Original bis ins kleinste Detail, das Layout ist derart gut kopiert, dass auf den ersten Blick kein Unterschied zu einer echten Ausgabe der Zeit auffällt.
Erste Irritationen verursachen die Schlagzeilen. "Opel in Belegschaftshand", prangt da als frohe Botschaft, und "G 20-Staaten einigen sich auf Vermögensabgabe", eine "Weltwährung" wird geplant. Auch das Datum ist falsch - dass heute nicht der 1. Mai 2010 ist, ist bekannt, und dass die Zeit neuerdings "weltweit 0 €" kostet, hätte man ja eigentlich auch mitbekommen müssen. Alles sehr verdächtig also. Erst ein Blick ins Impressum verrät schließlich Attac als Urheber dieser Zeitung aus der Zukunft.
"Wir wollen mit dieser Zeitung eine Zukunft beschreiben, die möglich ist", sagt Fabian Scheidler von Attac: "Die Welt könnte anders aussehen. Es gibt andere Möglichkeiten als die, die uns von der etablierten Politik immer vorgegeben werden."
Die Welt, die in der Zeit vom "1. Mai 2010" skizziert wird, scheint ein sonnendurchflutetes, fröhliches Paradies mit glücklichen Menschen zu sein. Jedenfalls bringt sie nur schöne Nachrichten hervor: Auf der Seite 2 verkündet die falsche Zeit etwa, dass auch in einer Wirtschaftskrise mit sinkendem Bruttoinlandsprodukt die Lebensqualität für die Bevölkerung durchaus ansteigen kann.
Die Regierung will eine Energiewende-Agentur gründen, um für immer von von Atom und Kohle Abschied zu nehmen. Die Automobilindustrie wird wegen ihrer aggressiven Vermarktung umweltfeindlicher Autos für das Schmelzen eines Gletschers in Nepal verantwortlich gemacht und zu 1,5 Milliarden Dollar Schadensersatz verurteilt. Gentechnische Manipulation von Pflanzen ist kein Thema mehr, auch die Massentierhaltung wird abgeschafft, der Afghanistankrieg ist vorbei, Lobbyismus per Gesetz beschränkt.
Und auch in Sachen journalistischer Ethik hat sich in der hell strahlenden Zukunft etwas geändert: ein gewisser Matthias Trocken stellt sich als stellvertretender Chefredakteur vor und entschuldigt sich. Die Chefetage der Zeitung sei lange Mitglied in sogenannten Elitezirkeln gewesen, in denen sich die Spitzen aus Politik und Wirtschaft treffen, "um darüber zu diskutieren, welches Schicksal sie der Welt zugedenken wollen." Über diese undemokratischen Treffen sei nie berichtet worden.
Man habe sich vielmehr als Teil der Macht verstanden denn als ihr kritischer Gegenpart, schreibt Trocken, und damit den journalistischen Ethos verletzt. "Unsere Aufgabe als Journalisten besteht nicht darin, mit am Tisch zu sitzen, sondern zu berichten und kritische Fragen zu stellen", schreibt Trocken. Der stellvertretende Chefredakteur der echten Zeit heißt Matthias Naß.
Die Artikel treffen den staatstragenden Ton des bildungsbürgerlichen Wochenblattes sehr genau. Weil die ganze Aktion durchaus auch witzig gemeint ist, ist der satirische Bestandteil in die ebenfalls getürkten Werbeanzeigen verlegt worden: Es wirbt zum Beispiel die Initiative Neue Soziale Marxwirtschaft.
"Unsere Hoffnung ist, dass die Aktion den Horizont der Leute etwas öffnet", erklärt Scheidler. Attac hat die Zeit ausgewählt, weil sie repräsentativ für die deutsche Mitte stehe.
Die Idee hatte Attac schon im Herbst, als sich die Finanz- und Wirtschaftskrise ankündigte: "Das Merkwürdige ist ja, dass in dieser ganzen Krise so eine Art Schreckstarre in der deutschen Gesellschaft herrscht. Die Zeitung soll zeigen: Eine positive Zukunft ist möglich! Wir hoffen, dass wir einen kleinen Beitrag dazu leisten können, die gesellschaftliche Stimmung aufzuhellen. Denn positive Veränderungen kann es nur geben, wenn sich von unten was bewegt. Das wird einem nicht von oben geschenkt. Von oben kommen nur autoritäre Lösungen."
Die Idee zur Zeitung kommt nicht von Attac, sondern aus Amerika. Wie Attac auf der Titelseite der falschen Zeit zugibt, holte man sich die Inspiration bei der amerikanischen Aktivistengruppe "The Yes Men". Diese veröffentlichte am 12. November 2008 eine gefälschte Ausgabe der New York Times. Aus dem Times-Motto "All the news thats fit to print" (Alle Neuigkeiten, die es wert sind, gedruckt zu werden)" machten die Yes Men "All the news we hope to print" (Alle Neuigkeiten, von denen wir hoffen, dass sie gedruckt werden).
In dieser Wunschausgabe aus der Zukunft (als Erscheinungsdatum wurde der 4. Juli 2009 angegeben) enden unter anderem die Kriege im Irak und in Afghanistan, und George Bush wird des Hochverrats angeklagt, während er privat Bin Laden jagt. Mehr als 1.000 ehrenamtliche Helfer verteilten die gewaltige Menge von 1,2 Millionen Exemplaren der Zeitung in den meisten größeren Städten Amerikas. Laut den Yes Men hätten auch drei echte Redakteure der Times mitgewirkt. Vonseiten der Zeitung gab es nur einen knappen Kommentar, dass es sich eindeutig um eine gefälschte Ausgabe der New York Times handeln würde. Vor Gericht zog die Zeitung nicht.
Wie auch Attac wollten die Yes Men mit der Zeitung eine Diskussion über die von ihnen gesetzten Themen erreichen. Anders als Attac sind die Yes Men allerdings keine politische Organisation, sondern eine Mischung aus Kunst-, Protest- und Satiregruppe.
Jacques Servin und Igor Samos gründeten The Yes Men 1999. Erste Aufmerksamkeit erregten die Aktivisten, indem sie sich die Website gatt.org sicherten und eine gefälschte Seite der Welthandelsorganisation WTO einrichteten, die der echten täuschend ähnlich sah. Daraufhin wurden Servin und Samos, die sich nun "Andy Bichelbaum" und "Mike Bonnano" nannten, als WTO-Experten mehrfach zu internationalen Konferenzen eingeladen.
Auf einer Konferenz in Salzburg 2000 forderten die Yes Men den weltweiten Handel mit Wählerstimmen und priesen Hitlers Wirtschaftspolitik - womit sie Applaus ernteten. Mittlerweile gibt es zwei Filme und ein Buch über die Yes Men. Die Gruppe ist zu einer Institution geworden, eine politische Agenda haben die Yes Men aber nach wie vor nicht.
Und genau das ist das Problem, sagt der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner von der Universität Siegen. Eine derartige Kommunikationsguerilla sei nur effektiv, wenn die Veranstalter ausreichend legitimiert seien. Dafür müsse es handfeste politische Inhalte geben, die beispielsweise hinter einer gefälschten Zeitung stehen würden.
"Bei den Yes Men überwiegt der Aha-Effekt," sagt Kleiner. Die Aktion sei nicht mehr Mittel, sondern Zweck. Weil die Medien nur noch über die Yes Men berichten würden, gingen die Inhalte unter. Dazu bemängelt Kleiner, dass die Yes Men eine Stellvertreterschaft für die Gesellschaft übernehmen würden, die ihnen teilweise nicht zustände.
Für Attac sieht Kleiner dagegen gute Chancen, mit der gefälschten Zeit die gesellschaftliche Diskussion zu Attac-spezifischen Themen zu befeuern. Denn Attac habe ein Bildungssystem innerhalb der Organisation, habe ein klar formuliertes Programm und sei langfristig orientiert. Deshalb werde Attac ernst genommen und könne Expertise in den angesprochenen Themenbereichen aufweisen.
Der echten Zeit rät Marcus S. Kleiner, die falsche Ausgabe in Eigen-PR umzumünzen. Durch die Auswahl der Zeitung werde diese schon geadelt. Jede Kritik würde Attac in die Karten spielen.
Denn einige der Zukunftsvisionen, die Attac in der Zeit vom 1. Mai 2010 anspricht, sind in den letzten Monaten sowieso auf die Agenda gerückt. Opel in Belegschaftshand? Absolut möglich. G 20 spricht für Multipolarität. Und für die UN denkt eine Kommission unter Nobelpreisträger Joseph Stiglitz tatsächlich über ein Weltfinanzsystem nach. Abgerechnet wird 2010.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei