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Erich Andres, Bildberichterstatter

■ Drei Monate nach dem Tod des Fotografen ist jetzt ein Bildband erschienen, der einen Querschnitt durch 50 Jahre Hamburger Geschichte dokumentiert

1å Ein Mann steht auf dem Michel und schaut hinunter zur Elbe. Vor ihm liegt eine verschachtelte Stadtlandschaft. Jahre später: Ein Mann steht auf dem Michel, sein Blick streift über Schuttberge und Ruinen. Wieder vergehen Jahre, und wieder steigt der Mann auf den Michel. Jetzt erstrecken sich neue Häuserblocks bis zum Flußufer. Ein Mann betrachtet Hamburgs Geschichte, und immer

1hat er die Kamera dabei.

Sein Beruf: Bildberichterstatter. Seine Rolle: Chronist der Hansestadt. Sein Name: Erich Andres.

Szenenwechsel. Hamburg im Jahr 1932: Früher Morgen in der ABC- Straße. Männer stehen aufgereiht und warten. Um 8 Uhr das Signal: Sie stürmen in die Zahlstelle der Arbeitslosenkasse. Wer nicht rechtzeitig kommt, muß nun Schlange stehen. Einer hat auf dieses tägliche Schauspiel gewartet: Erich Andres mit seiner Kamera.

Und noch ein Szenenwechsel: Hamburg nach den Bombennächten des Juli 1943. Ein toter Soldat liegt auf dem Rücken. Im Sterben hat sich ein kleiner Junge an ihn geschmiegt. Neben den Toten steht Erich Andres. Und seine Kamera ist auch hier dabei.

Hamburgs Geschichte der letzten 70 Jahre: Andres hat sie festgehalten. Seit er 1923 an die Elbe kam, ließ ihn seine Faszination für diese Stadt nicht wieder los. Unzählige Bilder entstanden im Hafen und auf dem Kiez, im Gängeviertel, draußen in den Wohnbezirken der Bürger und Arbeiter, in den Nachbarstädten Altona und Wandsbek.

Die Gesichter Hamburgs sind für Erich Andres immer die Gesichter

1seiner Menschen, und in seinen Fotos lebt ihr Alltag, leben ihre Hoffnungen und Irrtümer, Freuden und Enttäuschungen weiter. So zur Zeit der Wirtschaftskrise 1929, so während des „Dritten Reichs“ und danach, die Zerstörung, der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder.

Am Beginn dieser Hamburger Fotografenkarriere stand ein anderer Beruf. In seiner Heimatstadt Dresden lernt Erich Andres 1915 das Schriftsetzerhandwerk. Nebenher experimentiert er mit einem selbstgebastelten Fotoapparat. Als er 1923 arbeitslos wird, geht er auf die Walz. An der Elbe findet er in Hamburg seine zweite Heimat und sogar einen Job in einer Stadt voller Motive.

Fotografenkarriere — das Wort ist in doppelter Hinsicht falsch. Als Fotograf durfte sich der Autodidakt offiziell nicht bezeichnen, und für eine „richtige“ Ausbildung fehlte ihm nach Meinung von Experten das nötige Talent. Gut, Andres nannte sich eben Bildberichterstatter — die Qualität seiner Fotos setzte sich am Ende doch durch. Und Karriere? Gewiß, viele seiner Reportagen waren erfolgreich und

machten seinen Namen bekannt. Als freier Reporter konnte er sich

1gegen die Konkurrenz behaupten, aber im täglichen Trott blieb nie genug Spielraum, um mit spektakulären Themen den Sprung in die „große“ Fotografie zu schaffen.

Der Berufseinstieg fiel auch in der Medienstadt Hamburg damals nicht leicht, wo schon zwölf etablierte Fotografen den Markt bedienten. Aber der junge Andres war findig. Als erster setzt er 1931 die neuentwickelte Leica mit Kleinbildrollfilmen ein. Während die Kollegen noch mit Glasplatten hantierten, kletterte er schon auf die Dächer und schoß seine Fotoserien aus ungewöhnlichen Blickwinkeln. Später, als die Aufträge der größeren Blätter zahlreicher wurden, schaffte er sich ein Auto an: Transportmittel auch für seine Leiter, die für so manche verfremdende Perspektive unentbehrlich war.

Freischaffender Bildjournalist bis 1939, dann sechs Jahre (mit Kamera!) in einer Propagandakompanie, anschließend wieder Hamburg und der lange Weg der Stadt ins Wirtschaftswunder: Andres entging kaum etwas in diesen bewegten Jahren. Aber sein Werk auf die Hansestadt zu reduzieren, hieße es zu beschränken — Bilder aus dem Spanischen Bürgerkrieg, aus der Karibik, aus Albanien und Afrika machen einen ansehnlichen Teil des Archivs mit 200 000 Negativen aus. Und so manche unerwartete Entdeckung könnte da wohl noch gemacht werden.

Erich Andres ist im Februar 1992 gestorben. Vor wenigen Tagen erschien ein noch von ihm selbst konzipierter Bildband. Ein Querschnitt durch 50 Jahre Fotoschaffen, ein Querschnitt durch ein halbes Jahrhundert Hamburg-Geschichte und zugleich eine Chronik der deutschen Zeitläufte. Das sorgfältig gestaltete Buch bringt neben typischen Andres-Fotos vom politischen und sozialen Leben an der Elbe viele unbekannte Aufnahmen — insgesamt eine faszinierende Augen-Reise durch die große Welt Hamburg. Einziger Wunsch nach dem Durchblättern des Bandes: Er hätte gern doppelt so dick werden dürfen. Kay Dohnke

Ulli Müller (Hrg.): Erich Andres. Der Mann mit der Leiter. 50 Jahre unterwegs mit dem Hamburger Fotoreporter (1920 - 1970). Hamburg: Dölling & Galitz Verlag. 124 Seiten. 56 Mark.

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