Nachruf Fritz J. Raddatz: Ein Schmetterling
Er war einer der bedeutendsten Literaturkritiker der Nachkriegszeit. Nun ist Fritz J. Raddatz im Alter von 83 Jahren gestorben.
Er war einer der großen drei. Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser und er, Fritz J. Raddatz, sie waren die Großkritiker der Nachkriegzeit. Doch sein Leben war mehr als eine Aneinandereihung von imposanten Tätigkeiten – als Leiter des Rowohlt Verlags hatte er in den sechziger Jahren unter anderem Hubert Fichte, Rolf Hochhuth und Elfriede Jelinek als Autoren entdeckt, von 1977 bis 1985 war er Leiter des Zeit-Feuilletons –, es war vielmehr ein Gesamtkunstwerk.
In der alten Bundesrepublik war er jemand, den man als bunten Vogel bezeichnet hat, oder, um es mit Joachim Fest zu sagen, als „bunten Rock“. Ein Verweis auf eine graue Zeit, in der man bereits mit lila Socken für Aufregung sorgen konnte; doch wenn es nur das gewesen wäre. Raddatz wollte nie so recht in diese Gesellschaft passen, der er zugleich den Ton vorgab. Er schlief mit Männern, nach eigenen Angaben sogar mit Rudolf Nurejew, und fuhr Porsche, den er dann einige Straßen entfernt parkte, wenn er eine Schwulen-Bar in Hamburg besuchte; die Polizei notierte sich seinerzeit die Autonummern.
Immer gab es Champagner und nie bloß ein Bier, Pasteten und Austern statt Graubrot mit Schnittkäse. Fritz J. Raddatz liebte den Luxus und das mondäne Leben, seine Feste bei ihm zu Hause in Hamburg, seinem „dänischen Fischerdorf“, wie er es liebevoll bezeichnete, waren legendär.
„Schillernd“ fanden das die Leute – und nicht wenige fühlten sich von ihm angezogen und abgestoßen zugleich, weil er eben anders war. Ein „Gauche Caviar“, der zwar bei den 68ern mitmarschierte, aber eben perfekt angezogen und auf dem Bürgersteig gehend, nicht etwa auf der Straße. Jemand, der als als Hochschullehrer zwar über Exilliteratur dozierte, es sich aber verbat, von Studierenden geduzt zu werden. Und der Rudi Dutschke nicht nur verlegte, sondern nach dem Attentat auf ihn sogar Geld für ihn sammelte.
Fritz J. Raddatz konnte austeilen, Helmut Schmidt etwa nannte er einst einen „Ersatz-Hindenburg“, und nicht wenige freuten sich über den Fall des Hochmütigen, als er – ausgerechnet – aufgrund eines falschen Goethe-Zitats – als Feuilletonchef der Zeit entlassen wurde. Ein Dandy eben, jemand „ohne Moral“, wie ihm sein Verleger Bucerius in einem Brief attestierte. Was genau er wohl mit „Moral“ meinte? In dieser Zeit und in diesem Milieu wurden diese gewissen Neigungen, von denen man lieber gar nichts wissen wollte, eben auch nicht konkret benannt.
„Womöglich stehe ich ein wenig zu nackt auf dem Marktplatz“
Widerspenstig ist Fritz J. Raddatz auch nach der Vertreibung aus dem Olymp geblieben, weiterhin hatte er es auch vermocht, Hass und Ablehnung auf sich zu ziehen, insbesondere durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher. Ein Who’s who des bundesrepublikanischen Geisteslebens, bei dem fast niemand ungeschoren davonkommt. Am wenigsten Fritz J. Raddatz selbst. „Womöglich stehe ich ein wenig zu nackt auf dem Marktplatz“, sinnierte er bei einem Gespräch Ende letzten Jahres.
Das Alter ist ein Massaker – dieser Satz stammt von Philipp Roth. In seinen Tagebüchern scheute sich Raddatz nicht, die beängstigenden Ausmaße dieser Verwüstungen zu schildern. Die allmähliche Vereinsamung, weil alle Freunde längst weggestorben sind. Das Nachlassen der Physis, aber vor allem das nachlassende Interesse an den schönen Dingen, gar deren Entzauberung – etwa bei der erneuten Lektüre von Romanen, die er einst geliebt hatte. Balzac, nichts als Kitsch.
In den letzten Jahren seines Lebens wandte er, der Mann ohne Religion, sich zunehmend der Natur zu, am liebsten auf seiner geliebten Insel Sylt.
Erst vor Kurzem hatte er seinen endgültigen Rückzug aus dem Journalismus verkündet, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte er stets weitergearbeitet – bezaubernd etwa sein „Bestiarium der deutschen Literatur“ aus dem Jahr 2012.
Einsam ist Fritz J. Raddatz keineswegs gestorben. Er hatte nicht nur seinen Lebensgefährten an seiner Seite, sondern auch eine große Liebe, die ihn bis zum Schluss begleitet hat, die Literatur. Raddatz, Jahrgang 1931, verschloss sich zwar dem Internet, nie aber dem geschriebenen Wort. Zuletzt bewunderte er Wolfgang Herrndorf, dem er kurz vor seinem Tod noch eine Karte geschrieben hatte: „Ich lese weiter sehr viel, auch von jüngeren Autoren. Aber ich nähere mich ihnen nicht, die wären ja verlegen. Da kommt die Legende, so werde ich ja oft genannt, was ich nicht gerne höre. Denkmal, das heißt ja auch schon: Ganz weit weg. Man geht nicht hin und fasst es nicht an.“
Am Donnerstag nun ist Fritz J. Raddatz gestorben. Doch am Freitag erscheint sein letztes Buch: „Meine Jahre mit Ledig“ im Rowohlt Verlag. Und in Marbach liegen seine ungekürzten Tagebücher.
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