Zum Tod von Ulrich Beck: Der Bundesrepublikaner
Ulrich Beck hat uns die Auflösung der Nationalstaaten und die Individualisierung erklärt. Die Lust am Negativen war dem Soziologen dabei immer fern.
Ulrich Beck hat für einen Soziologen, eine oft mit Verachtung bedachte Profession, eine geradezu unheimliche öffentliche Wirkung entfaltet. Das verdankte sich einer seltenen Kombination aus wissenschaftlicher Präzision und journalistischem Gespür. Er sah gesellschaftliche Haarrisse, aus denen fundamentale Umbrüche wurden. Dabei half ihm eine Katastrophe: Tschernobyl 1986.
Beck war damals 42 Jahre und Professor in Bamberg, nicht gerade Zentrum intellektueller Auseinandersetzung. Die Studie „Risikogesellschaft“ machte ihn mit einem Schlag berühmt. Die Diagnose lautete, dass die Klassen, die mit der Industriegesellschaft entstanden waren, mit dieser auch untergingen – oder sich zumindest radikal verwandelten.
Die Trennlinie verlief nicht mehr nur zwischen reich und arm, sondern auch anhand der Verteilung von Gefahren. „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“ – dieser Aphorismus erhellte, dass die Ökologie ein anderes Denken über die Gesellschaft nötig machte.
Diese Grundidee konnte man schon Ende der 70er-Jahre bei anderen, etwa bei Rudi Dutschke, lesen. Dutschke hatte proklamiert, dass angesichts der möglichen Selbstvernichtung im Atomzeitalter die Gattungsfrage die Klassenfrage als Glutkern der Politik abgelöst hatte. „Risikogesellschaft“ war indes nicht noch eine postmarxistische Grabrede auf das Proletariat, sondern einer der ersten Wegweiser für eine Moderne, die von Umweltzerstörung geprägt ist.
Dies trug Beck Ende der 80er-Jahre nicht zu Unrecht den Ruf ein, Diagnostiker des postmateriellen, ökologisch bewussten Alternativbürgertums zu sein. Der zeitgleiche Aufstieg der Grünen war der passende Rahmen für dieses Bild. Die Idee, dass moderne Gesellschaften zunehmend damit zu tun haben, die Kollateralschäden ihrer Innovationsschübe zu beseitigen, ist indes ein Art Universalschlüssel zu Becks Denken – weit über die Ökologie hinaus.
Chronist der Auflösung der alten Kollektive
Die zweite Theoriegroßbaustelle ergab sich daraus wie von selbst: die Individualisierung. Die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich als Auflösung von Kollektiven, von Kirchen über Parteien bis zu Gewerkschaften erzählen. Die Post-68er waren das Ferment in diesem Prozess, dessen Chronist Beck war (wenn auch nicht der einzige).
Gegner haben ihm gelegentlich vorgeworfen, zu wenig wissenschaftliche Distanz und zu sehr unterstützender Teil gewesen zu sein. So war es nicht. 1990 entwarf er mit seiner Frau, Elisabeth Beck-Gernsheim, in der Studie „Das ganz normale Chaos der Liebe“ ein Panorama der Widersprüche, in denen sich Individuen nach dem Ende der Ehe als gesellschaftliche Zwangsnorm wiederfanden. Bonbonfarben war da nichts.
Denn die Auflösung von Traditionen bringen eben auch den Zwang mit sich, sich selbst zu erfinden. Wo die die Normen verblassen, beginnt die Arbeit am Selbst. Beck hat allerdings, anders als der französische Soziologe Alain Ehrenberg und in dessen Gefolge Byung Chul Han, stets daran festgehalten, Individualisierung als Chance zu verstehen, nicht als Nachtmar. Selbstverwirklichung kann, wie jedes Lebenskonzept, scheitern. Es hat, wie alles, unvorhergesehene Nebenwirkungen, und es ist von der Zurichtung durch die Ökonomie bedroht. Aber es ist ein Konzept, das Freiheitsgewinn verspricht. Die Krux dabei bleibt, „wie die Individuen damit umgehen“ (Beck)
Das dritte Gebäude, das der Soziologe inspizierte, war ein ebenfalls typisch bundesrepublikanisches Projekt: das Ende des Nationalstaats und die Verwandlung der Gesellschaften in transnationale, hybride Formen. Überflüssig zu sagen, dass Beck, anders als Intellektuelle wie Enzensberger, immun gegen die Gefühls-EU-Skepsis war. Europa grundlegend in Frage zu stellen, schien ihm keine Meinung zu sein, über die man so oder so denken konnte, sondern intellektuelle Regression. Das galt auch für sein Fach. „Die Soziologie, die im Container des Nationalstaats bleibt, arbeite mit Zombie-Kategorien, die in unseren Köpfen herumspuken, und unser Sehen auf Realitäten einstellen, die immer mehr verschwinden.“
Ein Medienintellektueller ohne priesterliches Gehabe
Beck ließ sich zu diesem und jenem interviewen, auch jenseits des eigenen Fachgebiets. Er schrieb Essays über Bundestagswahlen und war auf Wirkung bedacht. Ein eingreifender Medienintellektueller? Ja, durchaus. Aber auf eine demokratische Weise, ohne die priesterlich anmutende Geste des Großtheoretikers, dem qua Status besondere moralische Urteilskompetenz zuwächst.
Ulrich Beck war ein – darf man das so sagen? – positiver Denker, fasziniert vom Möglichkeitsraum des Humanen. Die Lust am Negativen, das dunkle, radikale Denken war ihm fern. Man kann sich ihn als intellektuelles Gegenstück zu den französischen Postmodernen vorstellen.
Er kannte, anders als die älteren Analytiker der Republik Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler, nur diese Gesellschaft. Keine HJ, Flak, Traumata. Er hat das Eigentümliche dieser Republik, vor allem das Postnationale, früher und genauer skizziert als andere.
Er war einer von uns. Der Klügste, wahrscheinlich.
Am 1. Januar ist er mit 70 Jahren in München gestorben.
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