Familiäre Aufarbeitung: Mein Großvater, der Opportunist
Rudolf Spohr war Zeit seines Lebens erfolgreich: unter den Nazis – und danach als Stütze des kulturellen Lebens in Nordenham. Als sein Enkel die Vergangenheit des Großvaters offenlegt, sind die Reaktionen zwiespältig.
NORDENHAM taz | Ach, Sie sind der Enkel von Rudolf Spohr? Na, herzlich willkommen!“ Mit Reaktionen wie dieser an der Rezeption eines Hotels war ich bereits vor etwa drei Jahren konfrontiert, als ich mich in Nordenham, dem ehemaligen Wohnort meines Großvaters, aufhielt. Sie verschafften mir einen Eindruck seiner öffentlichen Präsenz in der niedersächsischen Kleinstadt an der Nordsee, auch Jahre nach seinem Tod.
In diesen Jahren hatte ich mich, ausgelöst von den mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Dachbodenfunden, mit seiner NS-Vergangenheit beschäftigt. Nach dem Tod meines Großvaters Ende 2006 hatte ich in großer Anzahl Dokumente aus der NS-Zeit gefunden und dies zum Anlass auch für Archivrecherchen genommen.
Seitdem weiß ich etwas mehr über seine Funktion im Oberkommando des Heeres (OKH) in der Wehrmacht und seine Tätigkeiten als Ordonnanzoffizier an der Ostfront, in der Ukraine und im Kaukasus. Ich weiß auch, dass die Kriegszeit ihn bis zum Lebensende stark beschäftigt haben muss. Wie sonst sind eine Wehrmachtsuniform im Kleiderschrank und Kriegsfotos in der Schreibtischschublade zu erklären?
Zur schillernden Figur in der niedersächsischen Provinz wurde man jedoch seit 1945 nur noch unter dem Teppich durch Kriegsverdienste, das wusste auch mein Großvater. Und so entstand durch Engagement auf beruflicher und kultureller Ebene bis zu seinem Tod 2006 ein bis heute wirksamer, unbefleckter Mythos von ihm. Noch im August diesen Jahres, als ich einen weiteren Ausflug nach Nordenham unternahm, scheint mein Großvater dort vor allem bekannt zu sein für sein berufliches und kulturelles Engagement.
Bei meiner vorangegangenen Suche nach möglichen Interviewpartnern, die Auskunft über Rudolf Spohr und seinen Ruf in der Stadt geben könnten, erntete ich bereits begeisterte Aussagen wie auch Anekdoten zu seiner Person. Als herausragend gilt sein Engagement in der Goethe-Gesellschaft, deren Vorsitzender er 25 Jahre lang war. Ich treffe Burkhard Leimbach, den heutigen Vorsitzendenden der Goethe-Gesellschaft.
Mir nur noch blass bekannt von früheren Familienfeiern, empfängt mich der redegewandte ehemalige Lehrer und Schulleiter bei sich zu Hause bei Kaffee und Kuchen. Er erinnert sich an meinen Großvater: „Rudolf Spohr war sehr selbstbewusst, mit hoher Präsenz, wenn er auftrat.“
Flucht ins Hier und Jetzt
Glatt, charmant, nicht emotional, facettenreich: das sind Attribute, die mir in den folgenden Tagen noch öfter begegnen werden, wenn ich Menschen auf ihn anspreche. Leimbach ist die Begeisterung für meinen Großvater anzumerken, wenn er über ihn und seine Mitstreiter spricht. Sie hätten durch ein musikalisch und literarisch herausragendes Programm die Goethe-Gesellschaft zum Standbein der Nordenhamer Kultur wie auch zur zweitgrößten bundesweit gemacht.
„Das Besondere lag darin, dass er vor allem im Musikbereich darauf geachtet hat, hochkarätige Künstler, bekannte Namen aus Musik und Literatur hierher zu holen. Herr Spohr hat da die Dynamik und seine Initiativkraft, die er im Geschäftsleben offensichtlich gezeigt hat, auch auf das Kulturleben übertragen.“
Die Zeit des Krieges habe er nie erwähnt, er habe im „Hier und Jetzt“ gelebt und mit dieser Zeit abgeschlossen. Abgeschlossen, so denke ich, hatte er mit vielem, aber sicherlich nicht mit der – gleichwohl privaten – Vergegenwärtigung des Krieges. Dass über viele Aspekte des Nationalsozialismus nicht gesprochen wurde, barg die Gefahr einer kommunikativen Lücke.
Diese ließ sich mit klassischer Kultur als Gegenstand angeregter Gespräche gut füllen. Zur begeisterten Beschäftigung mit Goethe als scheinbar dringender Nachkriegsaufgabe konnte auch der eskapistische Wunsch nach einem unbefleckten wie unbeschadeten deutschen Wesen beigetragen haben, auf das man sich, Auschwitz negierend, beziehen konnte.
Burkhard Leimbach vermutet hingegen, das kulturelle Engagement könne als Kompensation gewertet werden: „Gerade der Rückgriff auf Goethe, auf seinen Internationalismus, seine Menschenliebe im Werk, ist natürlich eine kulturelle Basis, auf der man seine Kriegserlebnisse verarbeiten, kompensieren und sein Engagement anders wenden kann – und er hat das mit Herzblut gemacht!“
Davon bekommt jedoch nur ein kleiner Teil der hier Lebenden etwas mit. Christine und Jasmin aus dem Stadtteil Einswaden, beide Jahrgang 1985, sitzen auf den Treppen vor dem verrammelten Bahnhof und schlagen Zeit tot. Was sie mit Nordenham verbinden? „Jede Menge Langeweile.“ Vor Kurzem sei das Stadtfest gewesen, „das war‘s dann auch wieder.“
Aus Einswaden, ehemaliger Wohnort der Werft- und Industriearbeiter, sind seit 1987 etwa 700 Menschen abgewandert. Heute leben dort etwa 2 200 Menschen. Christine zählt einen Netto, ein Ärztehaus und einen Apotheker auf, „weiter nix, da ist noch weniger los als in Nordenham“. Da müsse man schon in die größeren Städte gehen, nach Bremerhaven oder Oldenburg.
Wenn man Geld hätte, würde man öfter mal in die größeren Städte fahren, so aber bleibt man eben auf den Treppen vor dem Zug sitzen, der einen dahin brächte. Auch durch solche Eindrücke wird mir bewusst, dass das, was mein Großvater im kulturellen Bereich betrieben hat, immer auch Abgrenzung einer Kleinstadtelite vor genau diesen Bevölkerungsteilen war. Ich erinnere mich, wie er abfällig über die Menschen sprach, die uns rund um den Bahnhof begegneten.
Ellen Reim, stellvertretende Redaktionsleiterin der Kreiszeitung Wesermarsch, veröffentlicht momentan eine Artikelreihe zur Wesermarsch in den Weltkriegen und ist bei ihren Recherchen auch auf Rudolf Spohr gestoßen. Wir treffen uns zum Mittagessen im Hotel am Markt und führen das angeregteste und offenste Gespräch meiner Reise. Nordenham sei gewissermaßen eine offene Stadt gewesen, in der Rudolf Spohr, eingeheiratet in eine Unternehmerfamilie, gut habe unterkommen können.
In den 1960er bis 80er Jahren sei die Stadt sehr wohlhabend gewesen, habe allerdings keine große bürgerliche Mittelschicht besessen. Eine Lücke, die, so erklärt es Ellen Reim, mein Großvater durch sein jahrzehntelanges Wirken in der Goethe Gesellschaft gut habe füllen können. Wahrgenommen werde er als „Stütze der Gesellschaft“, bis heute werde ihm große Hochachtung entgegen gebracht. Reim hat auch eigene Erinnerungen an ihn: „Ihr Großvater war ein großer, schlanker, immer gut gekleideter Mann, sehr distanziert. Und, nehmen Sie es mir nicht übel, teilweise überheblich und von sich selbst überzeugt.“
Ein schließlich Anfang September von ihr veröffentlichter Artikel über die NS-Vergangenheit von Rudolf Spohr hat Reaktionen hervorgerufen, die sie in ihrer 25-jährigen Geschichte in der Redaktion nicht erlebt habe. In zahlreichen Leserbriefen springen Verteidiger für Rudolf Spohr in die Bresche, weiterhin gibt es eine bunte Mischung aus Kritik und Lob für die Auseinandersetzung, Verleumdungen und abstrusen Behauptungen. In der Nordwestzeitung ist vom „NS-Verdacht“ die Rede, als habe man gerade von einem „Skandal Nationalsozialismus“ erfahren, den mein Großvater verschwiegen habe.
Die schnelle Lösung
Unter denjenigen, die sich einer kritischen Auseinandersetzung öffnen, ist man bemüht um schnelle und einfache Lösungen. War die Goethe-Gesellschaft bis zur Publikation des Artikels noch zurückhaltend, distanziert sie sich nun prompt öffentlich in der Lokalpresse und will die Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft prüfen. Die Stadtverwaltung erwägt derzeit eine Aberkennung der 1994 verliehenen Ehrenplakette in Gold. Dies könne geschehen, wenn jemand sich „unehrenhaft“ verhalten habe.
Schnell versteift sich die Diskussion um die Interpretation eines Dokuments, in dem mein Großvater die Vernichtung von Juden erwähnt. Darin heißt es, die Ermordeten würden „hoffentlich“ von der Welt vergessen. Die nicht eindeutig zu beantwortende Frage, ob er damit das Beschriebene gutheißt oder nicht, lässt verblassen, wie nah und deutlich er die Vorgänge mit einer kaum chiffrierten und empathiefreien Sprache an die Nachwelt heranträgt.
Auch die Frage, ob Rudolf Spohr seine Ansichten geändert habe, gehen am Kern der Dinge vorbei. Im Fokus schien mir für meinen Großvater lebenslang die Karriere zu stehen und er wusste sich sehr wohl äußerlich an den neuen Referenzrahmen der Nachkriegsjahre anzupassen. Wieder hängte er seine Fahne nach dem Wind und erhielt Anerkennung. Dass er die NS-Ideologie, mit der er aufwuchs, nicht einfach ablegte, ist offenkundig. Heute nach dem Anteil dieser Kontinuitäten zu forschen, ist weitaus komplizierter.
In Gesprächen mit Bekannten meiner Großeltern erhalte ich wenige Hinweise auf Risse in der Kleinstadtidylle und der „Dynastie“, der mein Großvater angehörte. Ich hatte durchaus nicht erwartet, zu Wein, Käse und guten Gesprächen in bürgerliche Nordenhamer Wohnzimmer eingeladen zu werden, in denen – vereinzelt – auch Kritik ihren Platz hat. Mehrfach fällt dabei das Wort „Herrenmensch“, um meinen Großvater zu charakterisieren.
Ich erfahre von einzelnen Fällen, in denen er mit Krieg und Verbrechen konfrontiert wurde und dann wahlweise „ausrastete“ oder stoisch-ignorant noch einen Keks anbot. Der „Chef des Bildungsbürgertums“ habe durchaus von Veteranentreffen berichtet, auch von der Kriegszeit mit Ernst Jünger. Die Ostfront aber sei in den Erzählungen ausgespart worden. Unangenehme Fragen brauchte er in seinem Umfeld wohl kaum befürchten. Die Konsequenz aus diesem Umgang mit der NS-Vergangenheit nennt der Publizist Ralph Giordano „Zweite Schuld“. Die Chance einer weiterführenden Diskussion könnte darin bestehen, meinen Großvater nur als ein Beispiel zu nehmen, um den jahrzehntelangen Umgang mit dem Nationalsozialismus in Nordenham näher zu beleuchten.
Hektische Überraschung
Das hieße, dass sich die Goethe-Gesellschaft, die Stadtverwaltung, der Lions-Club, der Theaterbeirat oder auch der Schul- und Kulturausschuss weniger mit seiner Person als mit der eigenen Geschichte beschäftigten müsste. Die hektische Überraschung über die veröffentlichen Erkenntnisse lässt nur erahnen, was noch unter der Oberfläche schlummert.
Einem älteren Taxifahrer, der in den letzten Jahren immer länger vor dem Bahnhof auf Kundschaft warten muss, sind meine Großeltern noch bekannt, ebenso Menschen in seiner ehemaligen Nachbarschaft. „Aus der Zeitung ... Goethegesellschaft, nech?“. Ein Haus, in dem noch vor drei Jahren auskunftswillige Leute lebten, ist einer Brachfläche gewichen. Und während ich über den Lutherplatz schlendere, weiß ich, die Leute stehen hinter den Gardinen. So kenne ich es aus meiner Kindheit.
Auf See gewesen
Ein älterer Herr gehört zu denjenigen, die noch nie etwas von Rudolf Spohr gehört haben: „Ja, ich wohn‘ schon fast 60 Jahre hier, aber die meiste Zeit war ich auf See.“ Mit dem Eindruck, dass viele in Nordenham in den letzten Jahrzehnten „auf See“ gewesen sein müssen, wenn der Nationalsozialismus drohte zum Thema zu werden, beruhigt mich das Einsteigen in den Zug, der mich wieder von hier wegbringt.
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