Brasilien bereitet sich auf WM vor: Favela in Rio plattgewalzt
Kurz vor der Fußball-WM geht Rio mit erhöhter Gewalt gegen die Bewohner der Favelas vor. Einige Vertriebene protestieren vor dem Rathaus.
RIO taz | Jetzt lagern sie vor dem Rathaus. Rund 200 Menschen, unter ihnen viele Kinder, bewohnen seit Freitagnachmittag den Rasenplatz unweit des Zentrums von Rio de Janeiro. Sie schlafen auf Tüchern oder Plastikplanen und bitten um Spenden aus der Bevölkerung: Wasser, Lebensmittel, Kleidung. Die Stimmung ist gereizt und frustriert, in kleinen Gruppen wird diskutiert, wie es jetzt weitergehen soll.
Erst vor zwei Wochen hatten sie ein neues Zuhause gefunden, ein leer stehendes Fabrikgelände im Norden der Stadt, das dem Telefonunternehmen Oi gehört. Rund 5.000 Familien besetzten das Terrain und errichteten notdürftige Hütten. Die meisten kamen aus Favelas in der Umgebung, wo sie die auch in Armenvierteln rasant steigenden Mieten nicht mehr zahlen konnten. Die Spekulation sowie eine Aufwertung der Innenstadtgebiete im Zuge der umstrittenen Befriedungspolitik für die Fußball-WM und Olympischen Spiele hat die Lebenskosten in Rio in die Höhe getrieben.
Doch die Stadtverwaltung wollte keine neue Favela entstehen lassen, schon gar nicht in der Nähe des Maracanã-Stadions. Mehrere Armenviertel in der Umgebung wurden bereits geräumt, die Stadt will sich als moderne Metropole präsentieren. Holzhütten und Armut passen nicht zum Image des Fußballfestes im Boomland Brasilien.
Gut 1.500 schwer bewaffnete Polizisten rückten am Freitagmorgen gegen die Besetzer vor. In wenigen Stunden waren sie obdachlos. Einige gingen freiwillig, andere wehrten sich. Mehre Busse, Autos und auch Gebäude gingen in Flammen auf, noch bis zum Abend kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern und Polizisten. Viele wurden verletzt, mindestens 25 Menschen, unter ihnen auch Journalisten, wurden festgenommen.
Alle Habseligkeiten verloren
Die Menschen vor dem Rathaus haben ihre Habseligkeiten verloren. Viele durften nichts aus ihren Hütten holen, bevor sie niedergewalzt wurden. Sie fordern jetzt neue Unterkünfte, finanzielle Unterstützung für das Notwendigste und ein Ende der Polizeigewalt gegen die Bewohner der Stadt. „Não vai ter Copa!“ – Es wird keine WM geben, unterbricht ein aufgebrachter junger Mann. Ihm wird applaudiert, während Polizisten in einiger Distanz drohend zuschauen. „Das Sozialamt war heute Morgen schon hier und wollte die Kinder wegbringen, weil sie nicht auf der Straße leben dürfen“, berichtet eine Mutter. „Warum waren die Sozialarbeiter nicht bei der Räumung dabei und haben das Unrecht verhindert?“
Zwei Monate vor der WM geht die Stadtregierung mit immer mehr Gewalt gegen die Bewohner der Favelas vor. Bereits Anfang April hatten rund 2.500 Armeesoldaten das Armenviertel Maré besetzt. Zuvor war es tagelang zu Schießereien gekommen, offenbar eine Provokation der Drogengangs gegen die Polizeipräsenz.
Seit gut fünf Jahren versucht die Regierung, die vom Staat jahrzehntelang vernachlässigten Armenviertel unter Kontrolle zu bringen, und installiert dort Einheiten der Befriedungspolizei UPP (Unidade de Polícia Pacificadora). Doch das anfangs viel gelobte Konzept zeigt inzwischen seine Schwächen: Mit der Polizeipräsenz geht keine soziale Verbesserung wie Abwasser- oder Gesundheitsversorgung einher. Zudem klagen die Bewohner über ständige Übergriffe seitens der Uniformierten. Und die kriminellen Banden haben sich angepasst oder sind in andere Favelas gezogen.
Am Samstag kam es erstmals seit der Besetzung der Maré zu einem Todesfall. Ein Mann wurde bei einer Schießerei tödlich verletzt. Polizei und Medien erklärten sogleich, es habe sich um einen Kriminellen gehandelt, der geschossen habe. Für viele Bewohner aber war es nur ein weiterer Fall von tödlicher Polizeigewalt, sie demonstrierten umgehend und blockierten die nahe gelegene Stadtautobahn.
Auch der Protest der geräumten Besetzer ging Medien zufolge von Vandalen aus. „Vandalen“ ist seit den oft gewalttätigen Juni-Demonstrationen gegen Geldverschwendung und mangelnde Dienstleistungen der neue Sammelbegriff für diejenigen, die Unruhe stiften. Das Parlament berät gerade ein Gesetz, das solche Gewalttaten als Terrorismus definiert. Es soll noch vor der WM verabschiedet werden, wird aber den Unmut der Menschen bestimmt nicht besänftigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!