Diedrich Diederichsen über Pop-Kultur: „Es gibt keinen Ursprung“
Diedrich Diederichsen hat uns das Nachdenken über Pop beigebracht. Sein Buch „Über Pop-Musik“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
taz: Herr Diederichsen, Sie haben ein Buch über Popmusik geschrieben. Der Theoretiker, der im Buch am meisten genannt wird, ist aber Theodor W. Adorno, der Popmusik und Jazz als kulturindustriell ablehnte.
Diedrich Diederichsen: Adorno interessiert mich mehr so „über Bande“. Mich interessiert, dass er sich in die Kunstwerke reindenkt, die aus seiner Perspektive eher populär oder kulturindustriell sind und die er als bestimmte Mentalitäten, bestimmte Typen, bestimmte Subjekte begreift. Und das ist bemerkenswert aktuell. Für ihn ist das ein Verfallsphänomen, aber er hat da einen blinden Fleck. Adorno selber verkörpert auch so einen Typ. Nur erfährt er in der klassischen Musik ein ganz bestimmtes Glück. Insofern ist er da sehr nahe dran an dem, worum es bei Popmusik geht.
Worum geht es bei Popmusik?
In der Popmusik gibt es eine Information, die klanglich-indexikal ist, es gibt einen Text, den ich lese. Es gibt einen Eindruck, den ich vom Schallplattenhören zu Hause habe, vom Radio in der Imbissstube, vom Konzert, vom Plattencover, von meiner Nachbarin, die die Fashion imitiert. Und alle diese Eindrücke setze ich zusammen. Und irgendwann kommt ein Eindruck, der zu viel ist, wo der Überdruss beginnt. Es ist ein nie abgeschlossenes Zusammensetzen von Einzelteilen. Es ist einerseits eine Erfahrung, die sich nicht so ohne Weiteres fixieren lässt. Andererseits ist es auch eine, in die Vermarktung permanent intervenieren kann.
Also ist an der Kulturindustriethese von Adorno doch etwas dran.
Mein Ausgangspunkt ist: Popmusik ist sowohl eine Kunst sui generis als auch eine Kulturindustrie. Es gibt da keinen sauberen Ursprung. Große Umbruchpunkte in der Popmusik waren oft Momente der Niederlage, der Vernutzung und des Ruins, wo eigentlich Kommunikation schon nicht mehr möglich war. Von da konnte man neu anfangen.
Laut Ihrem Buch ist die „Urszene“ von Pop ein Fernsehauftritt von Elvis im Jahr 1956. Was ist denn dort ruiniert worden?
In der Popmusik kommt es immer wieder vor, dass man ein künstlerisch expressiv gesehen wertlos gewordenes Zeichenmaterial nimmt, und es zur Verschlüsselung nimmt für etwas, was nicht künstlerisch, sondern zunächst mal sozial interessant ist. Bei Elvis im Fernsehen war das vereinfachter und geweißter R&B, der aus einer folkloristischen Tradition genommen wurde. Er war dann nur noch ein Bluesschema, rein musikalisch und sonst nichts, ein heruntergekommenes Material. Dazu kommt die Fernsehaufnahme. Sie ist weniger inszeniert, man kann über die Lichtsetzung nicht so ein ikonisch strahlendes Starfoto wie im Kino herstellen. Elvis muss natürlich auch noch etwas tun, er muss die Hüften schwingen und auf sich als Charakter neugierig machen.
geb. 1957, war von 1985 bis 1990 Chefredakteur der Spex. Er publiziert u. a. in der taz und den Texten zur Kunst und lehrt an der Akademie der bildenden Künste in Wien.
Wie funktioniert denn ein Popcharakter?
Über eine Drag-Performance. Die drei großen Factory Queens - Holly Woodlawn, Jackie Curtis, Candy Darling - haben ihre Drag-Performance nie beendet, sondern sind auch in Drag einkaufen gegangen. Das war der Beginn. Man spielt beim Drag eine Rolle, von der man behauptet, dass sie keine Rolle ist. Und dann spielt man mit dem Publikum, indem die Rolle mal in die eine und mal in die andere Richtung geht. Man sagt nicht „Ich bin jetzt eine Frau“, sondern: „Jetzt denkst du, dass ich eine Frau bin?“ Wichtig ist, dass es kein Sprechakt ist, der mit Folgen für dich als Person verbunden ist. Aber es ist auch keine Theaterrolle.
Ist Bushido auch Drag? Trotz seiner Hypermaskulinität?
Maskulinität ist ja nicht Natur. Aber für die Performance ist der polare Gegensatz nicht Mann vs. Frau, sondern Rolle vs. Selbst. Die Bezugnahme auf die Mann-Frau-Polarität ist da nur eine Möglichkeit innerhalb der Performance. Obwohl Sprechgesang für Rapper eine Geste der Authentisierung ist, sind die damit nicht aus dem Grundproblem entlassen, die Brüder.
Trotzdem gibt es ja immer Popszenen, die sich nicht so sehr um eine Charakterperformance als um Sounds herum bilden. Technoproducer machen ja oft nicht so viel her.
Die Maschinen sind oft ja ganz besonders interessante Personen. Aber meistens läuft so etwas wie Techno über das, was ich „Totemsounds“ nenne. Das sind relativ kleine und nicht besonders gestaltreiche Sounds, die für einen bestimmten Communitygebrauch von Musik stehen. Je nach historischer Situation sind das HipHop-Vocals oder die Blues-Harp oder das Scratchen oder was auch immer. Es sind relativ gestaltarme, nicht komplex miteinander verbundene, nicht künstlerisch expressive Zeichen, die so genutzt worden sind. Sie sind nicht immer erfolgreich, manchmal sind sie lanciert, manchmal nicht.
Solche über Zeichen verbundene Communitys wurden lange auch als Gegen- oder Subkultur wahrgenommen. Sie reden aber von einem „Gegenkulturalismus ohne Gegenkultur“. Was ist damit gemeint?
Ich beschreibe da die sogenannten Style Wars, den Moment, als eine Zeitschrift wie The Face ziemlich erfolgreich war. Das Vokabular von Popmusik und ihren Moden wurde ziemlich reichhaltig, aber das, was es beschreiben sollte, wurde weniger. Und da ist eine hypertrophe Nervosität entstanden. Abgrenzungen hatten immer weniger mit einem Lebensentwurf zu tun, der tatsächlich einen Unterschied machte. Aber ich würde mich auch dagegen verwahren, das als geradlinigen Prozess des Obsoletwerdens zu beschreiben, sondern es entsteht so was wie Phantomschmerzen oder Phantomempfindungen: Man will immer noch Dinge zeigen, auch wenn die nicht mehr direkt mit irgendwas verbunden sind.
Und wie klingt die Musik, die bei diesem Phantomschmerz entsteht?
Popmusiker produzieren recht präzise Tableaus von irgendetwas, von dem man nicht weiß: „Zu welcher Realität gehört das eigentlich?“ Hat das einen mimetischen Bezug zu irgendwas? Ich oder diejenigen, die aus ihrer Lebenserfahrung ein noch recht intaktes Verhältnis haben zu mimetischen Bezügen, tendieren dann dazu, dass zu dismissen und zu sagen: „Das ist ja eine Schimäre.“ Dem würde ich zumindest im bestimmten Grade widersprechen und sagen: Die bloße Konstruktion so einer fein ausgestalteten Traumwelt, wie man sie zum Beispiel bei den Decemberists findet, das ist eine Produktion, die setzt eine Differenz - auch zu früher.
Popmusik ist globalisiert wie nie zuvor. Kuduro aus Angola oder House aus Ghana landet sofort in meinem Soundcloud-Stream. Wie schreibt man in so einer Situation über Pop?
Es ist vielleicht weniger die Frage, wie man schreibt, als die, wer an der Unterhaltung teilnimmt. Es gibt da ja Blogs wie „Awesome Tapes From Africa“, aber dort schreibt kein Kuduro-Producer aus Luanda. Ich war letztens in Brasilien, wo es jede Menge neue interessante Tanzmusiken gibt, aber innerhalb Brasiliens existiert eigentlich kein Diskurs dazu. Es gibt zwar Leute, die es registrieren und klassifizieren, aber es gibt kein Sprechen darüber.
Ist der Diskurs vielleicht letztlich überflüssig?
Der Diskurs stellt überhaupt erst den Zusammenhang her zwischen brasilianischer und angolanischer Popmusik. Von sich aus tun sie das nämlich nicht.
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