Debatte Sexismus: Ein #Aufschrei der Vielen
Eine Frau, die glaubt, ein unglücklicher Einzelfall zu sein, wird keine Revolte starten. Vor einem Jahr hat #aufschrei gezeigt, wie Kollektive entstehen können.
E in Jahr ist es her, da wurde plötzlich auf allen Kanälen über Sexismus – und damit über Macht, Gewalt und Geschlecht – diskutiert. Verschiedene Ereignisse waren zusammengekommen: Da war das Porträt über Rainer Brüderle, das Laura Himmelreich im Stern schrieb („Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“). Da war der Spiegel-Artikel von Annett Meiritz über Frauenfeindlichkeit in der Piratenpartei. Da war die tödliche Gruppenvergewaltigung einer Inderin im Dezember 2012. Da war ein Beitrag im Blog kleinerdrei, in dem Maike Hank beschrieb, wie sehr Frauen heute an sexuelle Übergriffe gewöhnt sind und sie oft hinnehmen in einer Mischung aus Angst und unterdrückter Wut.
Und dann war da die Nacht vom 24. zum 25. Januar 2013, als Nicole von Horst unter ihrem Twitternamen @vonhorst Erfahrungen beschrieb, die von Alltagssexismus, Übergriffigkeit, Macht- und Sprachlosigkeit handelten. Erfahrungen wie diese: „Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag.“ Anne Wizorek, @marthadear, antwortete: „Wir sollten diese Erfahrungen unter einem Hashtag sammeln. Ich schlage #aufschrei vor.“
Hashtags werden in sozialen Netzwerken Schlagworte genannt, die mit einer Raute (engl.: hash) versehen werden und mit denen sich Nachrichten einem Thema zuordnen lassen. #aufschrei war ein Fanal. Über Nacht wurde es zu einem der meistgenutzten Hashtags in Deutschland. Innerhalb von zwei Wochen wurden rund 58.000 Tweets dazu geschrieben, rund 26.000 Menschen beteiligten sich.
Tausende Frauen berichteten von Erlebnissen mit alltäglichem Sexismus: „Der Typ, der nachts einfach neben mir stand und wissen wollte, ob ich einen Freund habe.“ – „Der Kollege, der mich gefragt hat, ob ich unten rasiert sei.“ – „Die unzähligen Male, die ich als humorlos bezeichnet wurde, weil ich einen ,leichten Klaps‘ auf den Arsch nicht witzig fand“. ‒ „Der Typ, der mich als F*tze beschimpfte, als ich lieber ein Buch lesen wollte als mit ihm zu reden.“ ‒ „Der Typ, der sich in einer komplett leeren Straßenbahn direkt neben mich setzte.“
Ein ganz neuer Aneignungsprozess
Die meisten Hashtags bleiben da, wo sie herkommen: im Internet. #aufschrei dagegen hat die Grenze zwischen Online und Offline überschritten. Printmedien und Radios berichteten, Talksendungen luden ein, Menschen diskutierten: Wo fängt Belästigung an? Wie geht man mit übergriffigen Vorgesetzten und Kollegen um? Warum ist es so schwer, sich zu wehren?
Damit zeigte sich aber auch: Die Grenze zwischen Online und Offline ist keine Grenze zwischen „dem Internet“ und dem „richtigen Leben“. Es waren erlebte Geschichten, in denen meistens Frauen die Opfer waren. Ihre Geschichten auf Twitter zu erzählen, war für viele ein ganz neuer Aneignungs- und Einordnungsprozess. Eine Frau schrieb: „Meine erste Reaktion zu #aufschrei: Krass, was anderen so passiert ist.“ Und dann: „Meine zweite Reaktion zu #aufschrei: Was mir doch alles wieder einfällt, wenn ich es mal nicht selbst verdränge und kleinrede.“
Laura Himmelreich, die Autorin des Brüderle-Porträts, sagt heute, ein Jahr nach dem Aufschrei, die Sexismus-Debatte habe vor allem die Fragen gestellt: „Warum gibt es Sexismus? Und warum nehmen wir ihn so unterschiedlich wahr?“ Vielleicht ging es aber auch um eine noch grundlegendere Frage: Wie verbreitet ist Sexismus überhaupt in unserer Gesellschaft? Die Diskussion konnte schließlich nur so laut werden, weil es schon lange ein Problem mit alltäglichem Sexismus gab, der viel zu selten als solcher benannt wurde.
Nicole von Horst sagte später über ihre #aufschrei-Tweets, es sei ihr darum gegangen, „Worte für Geschehnisse zu finden, die ich für unerklärbar, nicht aussprechbar hielt“. Tatsächlich können bestimmte Begriffe da, wo Erfahrungen unaussprechbar scheinen und zu Selbstzweifeln, Scham, Ängsten und Einsamkeit führen, wie ein Werkzeug sein, das man braucht, von dem man aber nicht mal weiß, dass es existiert. Als es den Begriff der „sexuellen Belästigung“ noch nicht gab, oder den der „Vergewaltigung in der Ehe“, fanden viele Betroffene schlicht keine Worte für das, was ihnen passiert war.
Und nun gab es #aufschrei – ein Synonym für Protest gegen Sexismus im Alltag.
Versuch der Entmündigung
Wer unangenehme Erfahrungen als solche beschreibt, legt immer auch eigene Wunden offen: Eine Geschichte dem #aufschrei zuzuordnen, hieß zuzugeben, dass man eine Situation nicht einfach ignorieren oder vergessen konnte. Aber gleichzeitig hieß es festzustellen, dass man nicht allein ist.
Simone de Beauvoir schrieb in „Das andere Geschlecht“: „Am Rande der Welt situiert zu sein, ist keine günstige Ausgangslage für einen, der vorhat, die Welt neu zu erschaffen.“ Eine Frau, die glaubt, ein unglücklicher Einzelfall zu sein, wird keine Revolte starten – gerade in einer Gesellschaft, in der Frauen eher lernen zu lächeln als zu kämpfen. Eine Frau dagegen, die sich als Teil eines Kollektivs fühlt, ist stärker.
Als im Juni ein Grimme Online Award verliehen wurde an „alle, die sich konstruktiv an #aufschrei beteiligt haben“, war die Begründung der Jury, erst durch Twitter habe die gesellschaftliche Debatte über Sexismus an Dynamik gewonnen. Dieses „Twitter“ sind einzelne Menschen. Sie haben die Wirkungsmacht eines Kollektivs bewiesen, das sich zuvor nie als solches konstituiert hatte.
Natürlich gab es unter denen, die das Hashtag #aufschrei benutzten, auch viele, die es ironisch verwendeten und für sexistische Witze nutzten. Unzählige Male wurde twitternden Frauen vorgeworfen, sie würden übertreiben, sich wichtig machen oder sich ihre Erlebnisse ausdenken. Eine Frau schrieb: „Frühmorgens, Großstadt, an der Ampel, auf einmal eine wildfremde Hand an meiner Anzughose. ,Süßer Hintern‘.“ Jemand antwortete: „Träume sind doch was Schönes.“
Solche Beispiele zeigen, wie Sexismus funktioniert: als Versuch der Entmündigung und Herabsetzung. Wer eine übergriffige Erfahrung als „Traum“ umdeutet, sagt damit: Netter Versuch, aber die Definitionsmacht habe ich.
Niemals ein individuelles Problem
Wer nicht glaubt, dass zur Teilnahme am #aufschrei eine Menge Mut gehörte, kann sich eines Besseren belehren lassen: Die Erlebnisse und die Reaktionen darauf sind auf Twitter schriftlich dokumentiert. Sofern nicht allzu viele Menschen ihre Beiträge löschen, kann jede und jeder nachlesen, was Sexismus ist und mit welchen Mitteln hier gekämpft wird.
Die beschrieben Erfahrungen folgen immer wieder ähnlichen Mustern: Immer wieder Hände, die wie durch Zufall auf Körperteilen landen, wo sie nichts zu suchen haben. Immer wieder Bemerkungen, die auf den Körper der Betroffenen abzielen. Immer wieder unangemessene Fragen zu sexuellen Erfahrungen und Vorlieben.
Das zeigt: Sexismus ist niemals ein individuelles Problem. Wer sexistische Übergriffe mit einzelnen Fakten aus dem Leben der Betroffenen erklären will, hat den #aufschrei nicht verstanden. Wenn eine Frau erzählt, dass sie belästigt wurde, hilft es nicht, zu fragen: Was hattest du an? Wie hast du dich gewehrt? Warst du betrunken? Keine der Antworten auf diese Fragen erklärt, warum Übergriffe geschehen. Wer die Gründe beim Opfer sucht, betreibt „victim blaming“: Er beschuldigt die Betroffene, ihr Unglück selbst herbeigeführt zu haben.
Sexistische Übergriffe geschehen nicht, weil jemand zu schüchtern ist oder sich nicht wehrt. Sondern weil jemand anderes die Macht hat, Grenzen zu überschreiten.
Zu sagen, dass es beim #aufschrei nicht um Einzelfälle ging, sondern darum, Machtgefüge zu zeigen, bedeutet allerdings nicht, die Akteure von ihrer individuellen Verantwortung zu entbinden. Zu verstehen, wozu der #aufschrei gut war, bedeutet zu verstehen, dass diejenigen, die sexistische Witze machen, übergriffig „flirten“ und Frauen einfach nicht in Ruhe lassen können, nicht bloß einen schlechten Humor haben, sich gerne unterhalten oder eben etwas dynamischer gestrickt sind, sondern dass sie Machtstrukturen ausnutzen. Der Hinweis, die Angegriffene hätte sich wehren können, schlägt fehl. Eine Gesellschaft, in der eine Frau ständig zum Rückschlag bereit sein muss, ist eine Arschlochgesellschaft.
Auch die Seite alltagssexismus.de dokumentiert Fälle von Alltagssexismus. Anders als auf Twitter können die Beiträge hier auch länger als 140 Zeichen sein und anonym eingereicht werden. Ähnliche Projekte sind everydaysexism.com und ihollaback.org.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?