Machtkampf in der Türkei: Verschwörung unter Brüdern
Der jüngste Korruptionsskandal erschüttert die konservativ-islamische Regierung des Tayyip Erdogan. Die islamische Gülen-Bewegung attackiert fleißig mit.
ISTANBUL taz | Das Haus mit Bootsanleger, direkt am Bosporus gelegen, ist schmuck, aber nicht protzig. Eine Sichtblende versperrt den Blick auf den Zweckbau, der die Atmosphäre gehobener Büroarchitektur ausstrahlt. Das Schild am Tor kündet davon, dass hier eine „Journalist and Writers Foundation“ ihren Sitz hat.
So harmlos, wie das Anwesen zunächst erscheint, ist die Stiftung jedoch nicht. Das sagen nicht nur Anhänger der türkischen Regierung. Als Schaltzentrale der „schwarzen Propaganda“ gegen Ministerpräsident Tayyip Erdogan bezeichnete jüngst etwa der Kolumnist Cem Kücük das Anwesen in der regierungsnahen Zeitung Yeni Safak. Von diesem Haus am Bosporus aus werde eine Art Junta innerhalb der Justiz und Polizei gesteuert, behauptete der Journalist. Deren Ziel: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu stürzen und ins Gefängnis zu bringen.
Das eigentlich spektakuläre an dieser Behauptung: Bei der Journalist and Writers Foundation handelt es sich nicht etwa um eine Tarnorganisation des militärischen Nachrichtendienstes, dem viele Türken schon lange unterstellen, er wolle die islamisch fundierte Erdogan-Regierung zu Fall bringen.
Vielmehr ist die Stiftung der öffentliche Arm der Bewegung des 72-jährigen Predigers Fethullah Gülen. Dieser größten islamischen Sekte in der Türkei gehören heute im Land selbst Hunderttausende und weltweit mehrere Millionen Muslime an.
Wer die Fäden in Justiz und Polizei zieht
17. Dezember: Großrazzien der Polizei in Istanbul und Ankara: Dutzende Menschen werden unter Korruptionsverdacht festgenommen, darunter auch drei Ministersöhne. Die Ermittlungen dauerten über ein Jahr lang an – ohne dass die Regierung davon Kenntnis hatte.
18. Dezember: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan beginnt damit, Polizisten zu versetzen, die mit den Ermittlungen befasst sind.
19. Dezember: Der Polizeichef Istanbuls wird seines Postens enthoben und durch den Gouverneur der Provinz Aksaray ersetzt. Weitere Amtsenthebungen folgen.
20. Dezember: Der mächtige Prediger Fethullah Gülen weist Verdächtigungen zurück, seine Bewegung könnte hinter den Ermittlungen stecken, um Erdogan zu schaden.
21. Dezember: Ein Gericht nimmt drei Ministersöhne und 22 weitere Verdächtige fest. Der Sohn von Umweltminister Erdogan Bayraktar wird unter Auflagen freigelassen. Die Regierung erlässt ein Dekret, wonach Ermittler ab sofort ihre Vorgesetzten über geheime Untersuchungen informieren müssen.
22. Dezember: Journalisten wird landesweit der freie Zutritt zu Polizeidienststellen untersagt.
25. Dezember: Innerhalb weniger Stunden erklären drei Minister ihren Rücktritt. Erdogan bildet sein Kabinett um. Seinen Posten verliert auch EU-Minister Egemen Bagis, der der vierte Minister unter Korruptionsverdacht war.
26. Dezember: Der Istanbuler Staatsanwalt Muammer Akkas kritisiert, von seinen Korruptionsermittlungen gegen „mehrere bekannte Persönlichkeiten und einige Beamte“ abgezogen worden zu sein.
27. Dezember: Die EU teilt mit, sie verfolge die Entwicklung in der Türkei „mit zunehmender Besorgnis“. Das oberste Verwaltungsgericht kassiert den Erlass, wonach Ermittler ihre Vorgesetzten informieren müssen.
Am Abend geht die Polizei in Istanbul mit Wasserwerfern, Tränengas und Plastikgeschossen gegen Demonstranten vor, die den Rücktritt der Regierung fordern. Auch aus anderen Städten werden Proteste gemeldet. (dpa)
Was sich wie eine verdrehte Verschwörungstheorie anhört – konservative islamische Kreise wollten den konservativen islamischen Regierungschef stürzen –, bestätigen allerdings auch Leute, die mit dem Premier und seiner AKP-Partei nichts am Hut haben.
Dazu gehört der prominente Journalist und Enthüllungsautor Ahmet Sik, der ein Buch über die Gülen-Bewegung geschrieben und dafür ein Jahr im Gefängnis gesessen hat. Die Bewegung, die sich selbst „Hizmet“ (Die Dienenden) nennt, wird in der Türkei gemeinhin „Cemaat“ (Die Gemeinde) genannt.
In seinem Buch „Die Armee des Imam“, das bis heute in der Türkei verboten ist, befasste sich Sik vor allem mit der Unterwanderung von Polizei und Justiz durch die Cemaat.
Noch bevor das Werk erscheinen konnte, war Ahmet Sik verhaftet worden. Man beschuldigte ihn, einer Geheimorganisation von Militärs, Bürokraten und Kemalisten („Ergenekon“) anzugehören, deren Mitglieder mittlerweile in erster Instanz verurteilt worden sind, weil sie gegen die Regierung putschen wollten.
Sik ist davon überzeugt, dass die Gülen-Bewegung innerhalb des Polizeiapparats „die Fäden zieht“, wie er sagt. Die jüngsten Ereignisse scheinen ihm dabei recht zu geben: Am 17. Dezember begann eine Verhaftungswelle, die enge politische Verbündete des Premiers und seiner Minister überrollte. Unter anderem brachte sie drei Söhne von wichtigen Kabinettsmitgliedern ins Gefängnis.
Fast hätte die Antikorruptionskampagne die Familie des Premiers selbst erwischt. Ein von Erdogan neu eingesetzter Polizeichef in Istanbul verhinderte vergangene Woche gerade noch eine zweite, von der Staatsanwaltschaft beantragte Verhaftungsrunde. Diese sollte auch einen Sohn des Premiers, Bilal Erdogan, treffen. Kein Zweifel: In Polizei und Justiz tobt jetzt ein Machtkampf zwischen den Anhängern Erdogans und der Gülen-Bewegung. Kaum jemand glaubt, dass der Bruch innerhalb des zerstrittenen islamischen Lagers noch zu kitten ist.
Dabei betrachteten sich die heutige Regierungspartei AKP und die Cemaat über zehn Jahre lang als gute Freunde. Entstanden war die Gülen-Bewegung in den 70er Jahren: Der Imam predigte damals im Ägäis-Raum und später in zwei Moscheen Istanbuls. Er rief dazu auf, Bildung wertzuschätzen, Wissenschaften zu studieren und erfolgreiche Geschäftsleute zu werden.
Der Imam steuert seine Bewegung von den USA aus
Groß wurde die Cemaat mit der Gründung von privaten Schulen – zunächst in der Türkei, später in Zentralasien und dann auch in Europa und den USA. Gülen selbst, dem eine Anklage wegen Aktivitäten gegen die säkulare Republik drohte, setzte sich im März 1999 in die USA ab, von wo er auch heute noch seine Bewegung steuert.
Ahmet Sik hat sich durch seine einjährige Untersuchungshaft nicht einschüchtern lassen. Obwohl das Verfahren gegen ihn noch läuft und ein Urteil aussteht, arbeitet er bereits an einem weiteren Buch über die Gülen-Bewegung.
Im Mittelpunkt steht diesmal das Verhältnis zwischen der Cemaat und ihren ehemaligen Freunden von der AKP. „Vor allem in der Periode von 2007 bis 2011, als die AKP-Regierung mit Hilfe der Justiz fast ein Drittel der höheren Ränge des Militärs hinter Gitter brachte, haben sie bestens zusammengearbeitet“, sagt er. „Gerade die Gülen-Leute innerhalb der Polizei haben die Geheimdossiers gegen die Militärs, kemalistische Bürokraten und Geschäftsleute, die die AKP los werden wollte, zusammengestellt.“
Warum dann jetzt der Bruch, und was bedeutet das alles für die Türkei? Mustafa Akyol, ein Kolumnist, der sowohl zur AKP als auch mit der Cemaat beste Beziehungen pflegt, schreibt dazu lapidar: „Nachdem der gemeinsame Feind (das Militär und das kemalistische Establishment) erledigt war, traten die Differenzen zwischen der Partei und der Bewegung in den Vordergrund und eskalierten schnell zu einem großen politischen Konflikt. Wenn es zwischen Türken auch nur eine kleine Meinungsverschiedenheit gibt, wird schnell ein großer Kampf daraus.“
Ganz so simpel sieht Ahmet Sik die Sache nicht, seiner Ansicht nach gibt es zwei Hauptgründe für den Konflikt: Erstens will die Cemaat „keine politische Lösung mit der kurdischen PKK-Guerilla“. Stattdessen setze die Bewegung weiter auf militärische Maßnahmen. Zweitens propagiert sie „einen mit dem Westen und Israel kompatiblen Islam und ist deshalb gegen Erdogans antiisraelische Politik.“
Anfang 2012 eskalierte der Konflikt zwischen den beiden wichtigsten islamischen Strömungen der Türkei. Staatsanwälte der Antiterrorabteilung, die der Gülen-Bewegung nahe stehen, wollten den Chef des türkischen Geheimdienstes (MIT), Hakan Fidan, festnehmen. Grund: Fidan verhandelte im Auftrag von Erdogan mit der PKK über einen Waffenstillstand – kollaborierte also mit Terroristen.
Erdogans Schlag gegen die Gülen-Schulen
Erdogan verhinderte die Festnahme. Er ließ ein Gesetz verabschieden, wonach hohe Geheimdienstmitarbeiter nur mit Genehmigung des Regierungschefs von der Justiz befragt werden dürfen. Dabei beließ es seine AKP-Partei aber nicht. Im Sommer 2013 verkündete der Premier, dass – durch einen Umbau des Bildungssystems – ein wichtiger Teil der Privatschulen, mit denen die Gülen-Bewegung ihr Geld verdient und über die sie ihren Nachwuchs rekrutiert, geschlossen werden soll.
Das war die ultimative Provokation. Seitdem schießen die Medien der Gülen-Gemeinde aus allen Rohren auf die Regierung. Erdogan wird nun von den Methoden eingeholt, mit denen er vor ein paar Jahren das Militär erledigte. Plötzlich veröffentlicht die Zeitung Taraf einen ihr zugespielten geheimen Beschluss des Nationalen Sicherheitsrats von 2004: Darin verständigt sich die Regierung Erdogan gemeinsam mit der – damals noch mächtigen – Militärspitze darauf, die Gülen-Gemeinde in die Illegalität zu drängen.
Nach dieser Veröffentlichung ist der Premier blamiert, die AKP windet sich vor Verlegenheit und erklärt schließlich: Ja, den Beschluss habe es gegeben, aber man habe ihn nie umgesetzt.
Was die AKP von der Gülen-Gemeinde unterscheidet
Mit den Verhaftungen vom 17. Dezember und weiteren Anklagen wegen Korruption gegen Männer in der unmittelbaren Umgebung von Erdogan hat die „Gemeinde“ nun einen neuen Schlag gegen Erdogan gelandet. Wieder kann der Premier nur reagieren. Er ordnete Versetzungen innerhalb von Polizei und Justiz an, die ihm nun zu Recht den Vorwurf einbringen, er wolle die Ermittlungen behindern.
Mit rechtsstaatlichen Verfahren und demokratischen Gepflogenheiten hat das alles nichts zu tun. Als linker Journalist habe er „nie große Sympathien“ für die rechtskonservative islamische AKP gehabt, sagt Ahmet Sik. Immerhin sei die AKP eine öffentliche Partei und ihre Regierung durch Wahlen legitimiert. Die völlig intransparente Cemaat hingegen, die „einen enormen Einfluss im Staat, in den Medien und im Geschäftsleben der Türkei“ ausübe, sei von niemandem legitimiert und arbeite nur im eigenen Interesse.
Siks Fazit: „Deshalb ist die Cemaat die weitaus gefährlichere Organisation für die Demokratie in der Türkei.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW