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taz-lab-Kolumne S(ch)ichtwechsel #9 Das Gegenteil von Solidarität

Es gibt keine Rechtfertigung für die Diskriminierung und kollektive Haftbarmachung von Rus­s:in­nen in Deutschland, findet unsere Autorin

Russen in Berlin demonstrieren gegen die russische Invasion in der Ukraine Paul Zinken dpa

Von ANASTASIA TIKHOMIROVA

In unserer taz-lab-Kolumne S(ch)ichtwechsel schreiben unsere Autor:innen wöchentlich über Klima und Klasse.

taz lab, 10.03.2022 | Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine häufen sich in Deutschland Anfeindungen gegen hier lebende Rus­s:in­nen und andere russischsprachige Menschen.

Es werden Menschen mit russisch klingendem Nachnamen darum gebeten, sich von dem Angriff Putins auf die Ukrai­ne zu distanzieren – als hätte jemals irgendjemand einen Deutschen darum gebeten, das bei dem rechtsterroristischen Attentat in Hanau oder Halle zu tun.

Die Mutter eines Freundes, die wohlgemerkt Ukrainerin ist, als „Russenschwein“ auf der Straße zu beleidigen, Menschen mit russischem Pass die ärztliche Behandlung oder Zutritt zu Retstaurants zu verweigern, russische Bars und Restaurants, die sich sogar pro-ukrainisch positionieren, zu bedrohen, ihre Außenfassade zu beschmieren, Scheiben einzuschlagen, seine Reservierungen dort zu canceln, Brandanschläge auf deutsch-russische Schulen zu verüben, ist rassistisches, besserdeutsches moralisches Überlegenheitsgefühl.

Bisher hat die Berliner Polizei 100 solcher und ähnlicher Straftaten registriert. Projektive Schuldabwehr und Schlussstrichmentalität à la „Jetzt sind die Russen die neuen Faschisten“, also Bereinigung der eigenen deutschen Nation vor historischer Verantwortung für den Holocaust, zeigt sich in diesen Tagen offen. Das ist mitnichten irgendeine Form der Solidarität mit der Ukraine.

Viele Russen in Deutschland stellen sich gegen Putin

Außerdem haben viele Rus­s:in­nen Russland gerade wegen des repressiven Putin-Systems verlassen oder sind sich durchaus der Unterdrückung in ihrem Heimatland bewusst. Das zeigt sich auch immer wieder an den Wahlen hierzulande, wo eine Mehrheit der Menschen mit russischem Pass 2020 gegen Putins Verfassungsänderungen oder 2021 nicht für seine Partei „Einiges Russland“ stimmte.

Aktuell überlege ich mir doppelt, ob ich wirklich Russisch in der Öffentlichkeit sprechen will, obwohl ich mir davor nie Gedanken darüber gemacht habe. Zwar ist es besonders zynisch, wenn Putins Vertreter in Berlin, die russische Botschaft also, über Verletzung der Rechte russischer Bürger in Deutschland klagt, angesichts dessen, was Ukrainer:innen, aber auch russische Oppositionelle gerade erleiden müssen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es irgendeine Rechtfertigung für die Diskriminierung und kollektive Haftbarmachung von Rus­s:in­nen in Deutschland gibt. Zuletzt dienen solche Vorfälle der russischen Regierung, ihr Narrativ darüber zu nähren, dass die ganze Welt Rus­s:in­nen hassen würde und sich Russland deshalb zu Recht „zur Wehr setzen“ müsse.