die taz vor zehn jahren über walter kempowskis fernsehprotokoll „bloomsday 97“
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Am 16. Juni 1997 („Bloomsday“, der Tag an dem James Joyce seinen „Ulysses“ spielen läßt) hat sich Walter Kempowski, assistiert von einem guten Dutzend Hilfskräften und Aufnahmetechnikern, von acht Uhr morgens an durch die Fernsehprogramme gezappt, bis zum nächsten Morgen um drei Uhr. Das Wortprotokoll – Verkehrsmeldungen, Seifenoperndialoge, Schlager, Diätrezepte, Werbung, Nachrichten, Sport, Wetter, der Wortsalat eines durchschnittlichen Fernsehtages – umfaßt knapp 400 Druckseiten: „Daß 37 Kanäle unaufhörlich wie eine WELLA-Haarkosmetik durch die Menschheit hindurchwehen, kann durch meine Arbeit auf sinnliche Weise ins Bewußtsein dringen. Die Menschheit wird durch Informationsmikrowellen geröstet“ (Kempowski).

Auf die Idee, das laufende Fernsehgeplapper 1:1 wiederzugeben, sind auch Uwe Nettelbeck und Rainald Goetz schon gekommen; Kempowski und sein Team sind nur noch gründlicher ans Werk gegangen. Dabei geht Kempowski das Risiko ein, daß seiner Leserschaft vor soviel Akribie und Materialfülle die Sinne schwinden.Wie beim „Echolot“ tritt Kempowski hier als Autor hinter das Werk zurück, bis zur Unsichtbarkeit; sichtbar wird nur die Regie, die er mit der Fernbedienung in der Hand geführt hat, von einem Kanal zum anderen springend.

Das Warten auf den Dorfroman, der die siebenbändige, zuletzt 1984 mit „Herzlich willkommen“ fortgesetzte Romanchronik abschließen soll, dauert nun schon 13 Jahre. Mit „Bloomsday 97“ wird sich die Wartezeit wohl kaum verkürzen lassen. Wer wird das Buch lesen? Von vorne bis hinten?

Vielleicht wird es in 20 Jahren, wenn das von 37 Sendern verbreitete Dauergebrabbel des Jahres 1997 fast so paradiesisch friedlich klingen wird wie heute die „Tagesschau“ von 1977, mehr von sich preisgeben. Zur Zeit ist kein Durchkommen möglich.

Gerhard Henschel in der taz

vom 15. 10. 1997