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Archiv-Artikel

die taz vor 17 jahren über erich honeckers historische verantwortung

Honeckers Erklärung, mit der er sich „zu der politischen Verantwortung für die Krise“ bekennt, liest sich wie eine Stimme aus dem Jenseits. Daß Honecker behauptet: „Ich habe nie in meinem Leben politische Entscheidungen aus egoistischen Motiven getroffen“, dürfte aus seiner Sicht zutreffen. Die Motive Macht und Rechthaberei hat er dabei freilich vergessen. Doch wichtiger ist nachzudenken, ob es Sinn macht, mit einem gescheiterten politischen System strafrechtlich abzurechnen. Wenn Honecker und seinem engsten Führungskern jetzt „Hochverrat“ vorgeworfen wird, weil sie die Macht „usurpiert“ hatten, fragt man sich, ob die Verhältnisse irgendwie besser geworden wären, wenn etwa in Artikel 1 der Verfassung statt allgemein von der „führenden Rolle der Partei“ zu reden, gestanden hätte, daß alle Entscheidungen von Belang durch das Politbüro der SED zu fällen sind.

Das alte System wird jetzt an seinem eigenen juristischen Formalismus aufgehängt. Darin liegt historische Gerechtigkeit, doch zugleich auch eine gewisse Verlogenheit. Denn jeder wußte, daß die veröffentlichten Gesetze das eine waren, das tatsächliche Funktionieren aber etwas ganz anderes. Das ist kein Plädoyer dafür, etwa die Wahlfälschungen ungesühnt zu lassen. Denn die andere Seite der Medaille besteht darin, daß allzu dreister Gesetzesverstoß die Möglichkeit des Umschlagens eines autoritären Polizeistaates in die offene Despotie in sich birgt. Doch von solchen krassen Fällen abgesehen, ist es der politischen Kultur nicht zuträglich, wenn die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den JuristInnen übertragen wird. Sie sollte Sache aller BürgerInnen sein und auch weniger darin bestehen, Schuld zuzuweisen, als sich über Strukturen klar zu werden. Den alten Honecker aber sollte man in seinen letzten Lebensmonaten in Ruhe lassen. Was könnte schlimmere Strafe für ihn sein als der Zusammenbruch der Welt, für die er mehr als sechs Jahrzehnte gelebt hat? Walter Süß, taz vom 17. 2. 1990