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Archiv-Artikel

berliner ökonomie Moralischer Minimalismus im Reklamerummel

In Pankow will Aldi drei Botschaftsgebäude im Bauhausstil abreißen, um auf den baumumsäumten Grundstücken einen großen Supermarkt zu errichten. Etliche Anwohner haben dagegen eine Bürgerinitiative gegründet – ihrer Meinung nach reichen die zwei in der Nähe existierenden Supermärkte aus. Dies bestreiten nun aber einige Rentner, die meinen: „Wir brauchen den Preisvergleich!“

Für die jungen Leute und Mütter wirft das „Shopping“ ein moralisches Problem auf, für die älteren ist es dagegen eine Informationsfrage. Sie befinden sich damit auf einer Linie mit dem Kapital. Und immer mehr soziale Oganisationen folgen ihnen dabei: die Kirchen, die Parteien, Regierungsreformer, amnesty international, Greenpeace, Tierschutzvereine, Genkritiker und Aidsbekämpfer – alle machen in vermeintlich aufklärerische Bandenwerbung, und das immer großflächiger. Dabei schrecken die Experten bald vor keinem Gegenstand mehr zurück. Selbst auf die Gefahr hin, dass dieser damit endgültig in den bunten Reigen der Waren auf- und untergeht. Daneben erobern die Reklameprofis sich auch noch immer neue Werbeflächen: Kneipentoiletten, Mülltonnendeckel, Brandmauern, Baugerüste, die Wartezeiten bei Telefonverbindungen, Frauenärsche etc. Und immer wieder überschreiten dabei einige auch die Grenzen der Legalität, indem sie sich zum Beispiel auf Webpages und SMS einschleichen, Faxgeräte bombardieren oder einen heimlich auf 0190-Nummern schieben. Nicht umsonst nennt man diese Schweinebande deswegen auch „Kreative“. Es ist schon so weit, dass jemand, der ganz normal mit kleinen Handzetteln wirbt, geradezu rührend und Vertrauen erweckend wirkt.

Neben den Schönhauser Allee Arcaden in Prenzlauer Berg saß lange Zeit ein Akkordeonspieler. Ein hagerer Mann mit dicken Brillengläsern und einem lieben Gesicht, dem man die Härte und Kälte seines Daseins ansah. Neulich nun traf ich ihn in einem U-Bahnhof, wo er neben dem Akkordeonspiel auch noch sang. Als ich ihm etwas Kleingeld in seinen Hut warf, gab er mir ein A 5-Flugblatt. Es sah aus wie der Beipackzettel eines Medikaments aus dem 19. Jahrhundert – oben stand: „Welikanov Alexander Diplom. Sänger. Konservatorium“. Unten drunter: „10551 Berlin-Tiergarten Emdener Str. 56, Wohnheim“. Dazwischen warb er als Gesangslehrer auf 40 eng beschriebenen Zeilen um Schüler: „Von Ihnen wird nur der Wunsch nach Singenlernen erwartet“.

Er selbst absolvierte einst das Konservatorium in der Gesangsklasse „klassische Gesangsausbildung“ – und bekam dann eine Stimmbandlähmung, die dazu führte, dass er die herkömmliche Gesangsausbildung in Frage stellte und eine eigene – bessere – entwickelte. Währenddessen arbeitete er in verschiedenen Musiktheatern als Gesangsschauspieler – in Rostow am Don, Engels, Kaliningrad sowie in Saratow. Hierzu fiel mir sogleich eine Bemerkung des Gulag-Häftlings Jewgenia Ginsburg – der Mutter von Wassili Axjonow – ein, die neben all den Verbrechen der Bolschewiki auch dieses erwähnt, dass sie schnöde die berühmte Nachtigallenschule von Saratow vernichteten. Wahrscheinlich indem sie einfach die ganzen alten Bäume fällten.

Welikanov schreibt weiter: „Während dieser Zeit wurden von mir zahlreiche Tragödien und Probleme der Sänger beobachtet. Nach dem Konservatorium 19 Jahre lang harte tägliche Arbeit zur Wiedergutmachung von Fehlern der traditionellen ‚Gesangsschule‘.“ Dabei entstand seine nun so genannte „Autorenmethodik“, mit der er bis heute nach eigenen Angaben über 200 Menschen im Alter von fünf bis 61 Jahren ausbildete, obwohl ihm dafür weder geeignete Räume noch ein Konzertmeister oder sonstige Unterstützung zur Verfügung standen. „Dennoch waren alle Schüler schließlich in der Lage, schon nach zwei bis drei Monaten selbst anspruchsvolle Arien zu singen.“

Mit diesem Quasiversprechen endet der Werbetext von Alexander Welikanov. Zwischendrin findet sich dazu jedoch noch die Bemerkung: „Sie glauben mir nicht, Sie haben noch Zweifel? Dann rufen Sie mich an – unter 01 79-3 84 53 29“. Nun will ich leider meine schwache Stimme und mein schlechtes musikalisches Gehör gar nicht schulen, aber vielleicht der eine oder andere Leser dieser Kolumne? Für die Seriosität des „Flugies“ von Alexander Welikanov kann ich mich verbürgen. HELMUT HÖGE