Zukunftsbilder Jugendlicher : Ich wünsch mir einen fetten Mähdrescher
Eine Deutschlandtour zu jungen Leuten in der Stadt und auf dem Land bringt eine zentrale Erkenntnis: Wie schwer es fast allen fällt, sich eine bessere Zukunft auszumalen.
von GEMINA PICHT und MAGALI MOHR
Eine Plakatwerbung am Straßenrand verspricht schnelles Internet, bald flächendeckend. Unweit davon wirbt die CDU, die hier seit Jahren das Sagen hat. Im Hintergrund: weidende Kühe, Wiesen und Felder, so weit das Auge reicht. Alle zwei Stunden fährt ein Bus durch den Ort – auf dieser Fahrt sind wir die Einzigen, die hier aussteigen. 415 Kilometer nördlich von Berlin, kurz vor der dänischen Grenze, treffen wir uns mit Mitgliedern der Landjugend zu einem Gespräch über ihre Zukunftsvorstellungen.
Es ist die fünfzehnte Diskussion dieser Art, am Ende werden wir in zwanzig Treffen mit über zweihundert jungen Leuten gesprochen haben. Quer durch Deutschland reisen wir für das FUTURZWEI-Projekt »Zukunftsbilder der Nachhaltigkeit«. Wir sprechen mit denjenigen, die die Zukunft leben werden: Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Mit Pfadfinderinnen, Chorsängern und Schützen, Schülerinnen und Schulabbrechern; alle zwischen 15 und 26 Jahre alt, wir selbst sind Mitte zwanzig.
An alle stets zwei Fragen: Wie stellt ihr euch die Zukunft vor? Und wenn die Zukunft besser werden könnte als die Gegenwart, wie sähe sie dann aus?
Kein Zukunftsbild der Jugend
Im Gemeinschaftsraum der Landjugend träumt sich ein Junge ans Steuer des größten Mähdreschers Australiens: »So’n richtig fettes Dings, ne, sowas gibt’s neet mehr hier in Düütsland, richt‘sch geil.« Ein anderer hofft auf die schnelle Übernahme des Hofes seines Chefs, das wird schon klappen. Ansonsten: Haus und Kinder, ’ne Frau heiraten, bevor man dreißig wird. Sonst droht nach norddeutscher Tradition das öffentliche Fegen – der Junggeselle muss so lange mit einem borstenfreien Besen die vorab mit Federn und Holzspänen übersäte Rathaustreppe fegen, bis ihn eine Jungfrau durch einen Kuss erlöst.
Während in unserem Berliner Freundeskreis über Dieselfahrverbote, die Regulierung von E-Bikes und Elektrocarsharing diskutiert wird, hoffen die Jugendlichen hier auf günstigere Dieselspritpreise – für die Mähdrescher und das eigene Auto. Schnell merken wir: Von einem Zukunftsbild der Jugend kann nicht die Rede sein. Viel mehr sind es viele »Zukünfte« – oftmals vage Ideen, zaghafte Versuche, Träume in Worte zu fassen.
953 Kilometer weiter südlich, in der bayerischen Hauptstadt, keine Kuh in Sicht, erträumen sich die jugendlichen Mitglieder einer Umweltorganisation ein grünes, gemeinschaftlich organisiertes München. Aufwachen bei Vogelgezwitscher statt Autolärm, in der Wohngenossenschaft gemeinsam Tomaten anbauen statt dreifach in Plastik verpackte aus dem Supermarkt. Eine Stadt, in der zu leben sich nicht nur die Reichen leisten können und in der echte Gemeinschaft herrscht. Diese Jugend will, dass Ökosein selbstverständlich ist, »normale Menschen mit normalen Hobbys, die verstanden haben, dass es sinnvoll ist, ’nen nachhaltigeren Lebensstil zu führen«, sagt eine. Jenseits von Wollpulli-und-Jesus-Latschen-Klischees verstehen sie sich als Öko-2.0-Generation, die Fairtrade und Co. als Normalität betrachtet.
Wunschvorstellung Normalität
Ein ähnlicher Wunsch, aber auf anderer Ebene, begegnet uns in Sachsen-Anhalt im Gespräch mit jungen LGBQTs. (Die Abkürzung steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Queer, Transsexual.) Wie schön es wäre, nicht mehr aufzufallen, wenn alle sexuellen Orientierungen Normalzustand wären und sich alle als Mensch und nicht in Geschlechtskategorien verstünden. Auch hier gibt es den Wunsch nach einem autarken Selbstversorgerbauernhof, in dem jeder so leben darf, wie er ist. Gemeinschaftlicher Gemüseanbau und Tauschgeschäfte: Äpfel gegen Kartoffeln, alles teilen. Um sich herum imaginieren sie wildere Natur, nicht mehr so kultiviert und gezähmt – »eine Verschmelzung von Stadt und Wald, weil Grün gut tut und reinigt«, seufzt eine Teilnehmerin.
Kartoffeltausch und wilde Waldromantik – wir fragen uns, ob das die großen Zukunftsvisionen unserer Generation sind. Und stellen uns vor, wie wohl eine Welt aussähe, in der alle in autarken Bauernhöfen leben. Sichtbar wird: Entlang dieser Wünsche werden politische Fragen des Zusammenlebens verhandelt. Es geht um alternatives Wirtschaften, gemeinschaftliches Wohnen und die Abwendung von reiner Profitorientierung. Aber: Die Alternativentwürfe gesellschaftlichen Zusammenlebens spielen sich gänzlich im Kosmos des überschaubaren Privaten ab. Dort, wo jeder Einzelne wirken und etwas tun kann. Reicht das, Utopien im privaten Klein-Klein zu verwirklichen, wenn viele das Gefühl haben, das große Ganze stimme nicht? Umso weniger verwunderlich ist der Wunsch von vielen nach einer Instanz, die sich am Gemeinwohl der Gesellschaft ausrichtet. Das könnte sowohl ein »altruistischer Diktator« als auch eine Weltregierung sein.
In Brandenburg, nur achtzig Kilometer entfernt, leben Jugendliche bereits in einer vermeintlich idyllischen Utopie. Sie haben mit ihren Familien die Hauptstadt verlassen, auf der Suche nach mehr Gemeinschaft, Natur und Ruhe. Das gibt es hier alles, zumindest solange Udo nicht gerade sein Boot anschmeißt. Direkt am See, wo Biber und Bisamratte leben und vegane Gummibärchen der Hit sind, träumen sich einige der Jugendlichen allerdings lieber in die trubelige Großstadt, mit nahegelegenem Schwimmbad und Kino. Andere lieben die Ruhe wirklich und vermissen die Stadt nicht.
Großstädte der Zukunft
Im Fantasieren künftiger Großstädte treffen sich die Vorstellungen wirder: senkrecht bepflanzte Hochhausfassaden, farbenfroh bemalte S-Bahnen oder Vakuum-U-Bahnen mit Themenabteilen, in denen jeder, dem eigenen Gemütszustand entsprechend, einen schönen Platz findet. Lebendigkeit statt grauer Masse, sich wohlfühlen und nicht abschotten müssen. Ob der Mars dafür besser geeignet wäre? Cool wäre es, einen anderen Planeten in erdähnliche Zustände zu bringen. Neu anfangen und die Probleme auf der Erde hinter sich lassen, Zusammenleben anders regeln. Dafür schickt man am besten zuallererst schwangere Frauen auf den Mars, finden einige, denn sie sind nicht an Konflikten interessiert, verdoppeln sich automatisch und wollen das Beste für die nächste Generation. Andere widersprechen: »Wir müssen erst die Probleme auf der Welt bekämpfen, sonst verschiebt man’s doch nur.« Wie genau das gehen könnte: weiß keiner.
Nicht überall lässt die Realität es zu, sich in galaktische Traumwelten zu begeben, in denen vieles möglich scheint. Nirgends wird das so deutlich wie im Umland von Dresden, im Gespräch mit Hauptschulabbrechern. Im Hinterzimmer einer großen Werkstatthalle, in der sie vom Jobcenter verordnete, berufsvorbereitende Maßnahmen absolvieren, sitzen wir zu zehnt im Kreis. Manche von ihnen tragen Blaumänner, andere Sneakers, Jeans und T-Shirt. Die Welten, die zwischen uns liegen, sind nicht zu übersehen: andere Ausdrucksformen, andere Umgangsformen, anderer Alltag. Ständiges Ins-Wort-Fallen, Hin- und Herlaufen, Rülpsen, Zwischenrufe und Abschweifen vom Thema.
Im Bemühen, sie zum Träumen und Wünschen zu ermuntern, reden wir Akademikerinnen komplett an ihrer Lebensrealität vorbei. »Ich hab keen Wunsch«, hören wir immer wieder, bis uns eine Teilnehmerin erklärt, warum das so ist: »Was soll man für Wünsche haben? Weißte eh, dass das nie wahr wird, was fürn Schwachsinn.« Diejenigen, die sich nach 45 Minuten doch unsicher vorwagen und eine Zukunft als Lokführer, Friseurin oder Erzieherin erwägen, werden von denen anderen ausgelacht. »Lokführer – das wirst du doch sowieso nie!«
Das Träumen wieder gesellschaftsfähig machen
Die Relativierung der eigenen Wünsche und der anderer, das schnelle Verwerfen von Träumen und das soziale Ersticken von Utopien sind Elemente, die in allen Gesprächen auftauchen und sich zu einer zentralen Erkenntnis unserer Reise verdichten: Wie schwer es für die meisten ist, sich eine positive Zukunft vorzustellen. Sich vorzuwagen in Gedankenwelten eines ›Alles könnte anders und besser sein‹. Bei den vorsichtigen Versuchen, sich die Zukunft positiv auszumalen, begegnen uns immer wieder peinlich berührtes Lachen und Sätze wie: »Das ist doch vollkommen naiv.« oder »Jetzt mal ganz realistisch, das wird nix.« Von einer besseren Zukunft zu träumen, fühlt sich für viele der Jugendlichen ungewohnt, alltagsfern und irgendwie unzulässig an.
Liegt das am durchgetakteten Schulsystem, das wenig Raum zum frei Denken lässt? Oder an den allgegenwärtigen Untergangsszenarien – Massenarbeitslosigkeit durch Digitalisierung, unaufhaltsamer Klimawandel, das Ende der liberalen Demokratie?
Wir merken in jeder Diskussion aufs Neue: Wenn wir unsere Träume nicht einmal selbst ernst nehmen können, wird das Entwerfen von zukunftsfähigen Gesellschaftsformen schwierig, die Umsetzung geradezu unmöglich. Ohne eigene und gemeinsame Vorstellungen davon, wohin es in Zukunft gehen soll, ohne ein Bildinventar der Zukunft, werden wir nicht einmal uns selbst davon überzeugen können, dass es eine gute Zukunft gibt. Geschweige denn andere. Also: Lasst uns das Träumen, das Imaginieren von Utopien wieder gesellschaftsfähig machen und politisch; ernsthaft, selbstbewusst und angstfrei über unsere Best-Case-Zukunft sprechen. Sonst kann es sie nicht geben.
GEMINA PICHT, 26, lebt in Berlin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei FUTURZWEI. Zuvor war sie Campaignerin der Initiative Die Offene Gesellschaft. Studium in Berlin und London.
MAGALI MOHR, 26, lebt in Berlin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei FUTURZWEI und ist Research Fellow bei dem Thinktank d|part. Studium in Maastricht und London.