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Vier Projekte Die neue Landlust

Auf dem Land geht nichts mehr? Falsch. Vier Beispiele für neue Ideen und gesellschaftliches Engagement.

»Verhaltene Neugier«: Nachbarschaftstreffen bei Kaffee und Kuchen im Garten des WG-Projekts Fuchsmühle in Nordhessen Robin Dirks/Fuchsmühle

Von LEA LUTTENBERGER und MIRIAM SCHEIBE

Landleben. Gerade in Großstädten ist dieser Begriff während der Corona-Pandemie zu einem verheißungsvollen avanciert. Homeoffice auf der halbschattigen Terrasse oder zumindest mit weitem Landschaftsblick malt man sich dann vielleicht aus. Zum Mittagessen gäbe es Selbstgeerntetes aus dem eigenen Garten, in dem sich jede Quarantäne leichter aushalten ließe.

Dass das ein romantisiertes Bild ist, steht außer Frage. Außerdem wirft es einen einseitigen Blick auf ländliche Regionen: Meist ist es die Perspektive von Städter*innen, die weniger dicht besiedelte Regionen bewertet, schwankend zwischen eingangs skizzierter Idealisierung eines Idylls und klischeebeladener »Ich könnte da ja nicht wohnen«-Haltung.

Vielleicht erklärt diese Ambivalenz, warum ein Boom der Städte anhält. Über 77 Prozent der Deutschen leben in urbanen Regionen, Tendenz steigend. Die Dörfer werden dabei oft sich selbst überlassen – eine mangelnde Infrastruktur, fehlende kulturelle Angebote und eine löchrige Versorgung sind die Folge. Wieso muss man das ändern? Wie kann man das ändern? Vier Porträts.

Helen Britt Fuchsmühle

HELEN BRITT und die Crowdfunding-Immobilie Fuchsmühle

»Ich dachte immer, ich sei ein totaler Stadtmensch«, sagt Helen Britt, dann lacht sie kurz. Sie sitzt in ihrem WG-Zimmer in Waldkappel, das mit einer Bevölkerung von etwa 4.000 Menschen zwar in die Kategorie Kleinstadt fällt, optisch jedoch eher einem Dorfidyll gleicht. Bewaldete Mittelgebirgslandschaft rahmt typisch nordhessische Fachwerkhäuser, die nächstgrößere Stadt ist Kassel und liegt 40 Kilometer entfernt.

»Der Bürgermeister und der Pfarrer waren uns gegenüber von Anfang an sehr offen.«

Helen Britt

Britt, 24, trägt die Haare lose aus der Stirn gebunden und lacht gern breit, was sehr natürlich wirkt. Sie ist eine von 40 jungen Menschen zwischen 22 und 36, die in den letzten zwei Jahren nach Waldkappel gezogen sind und auf sieben Wohngemeinschaften verteilt über den Ort leben. Ihnen allen liegt ein nachhaltiger Lebensstil am Herzen, gemeinschaftlich, ökologisch, ohne Profite. Sie möchten anwachsen und dabei nicht unter sich bleiben, sondern gemeinsam mit den Menschen vor Ort regionalen Wandel gestalten.

Wie so ein Wandel funktionieren kann, beschäftigt Britt schon lange. Seit ihrem 19. Lebensjahr lebt sie in Gemeinschaften – erst in einem Wohnprojekt in Mainz, dann in der Nähe von Göttingen. Ihr Studium der bildenden Kunst wurde mit den Jahren zweitrangig, Klimaaktivismus und gemeinschaftliche Organisation waren wichtiger.

Ein Loch im Boden des zentralen Mühlengebäudes der Fuchsmühle wird repariert. Fuchsmühle

Ursprünglich kommt Britt aus Stuttgart und war ein richtiges Stadtkind. Dass sie die Stadt verließ, hatte zunächst eher pragmatische Gründe: mehr Platz, günstigere Mieten, mehr Land zum eigenen Nahrungsanbau. Schnell lernte sie ländliches Leben lieben. »Das hat mir viel Ruhe geschenkt«, sagt sie und tatsächlich wirkt sie sehr ausgeglichen. Doch es kann auch zu ruhig zugehen. Auf dem Land in der Nähe von Göttingen fühlte Britt sich aufgrund schlechter Anbindung und wenig anderer jungen Menschen oft abgeschieden.

So entstand die Idee, ein »Netzwerk an Gemeinschaftlichkeit« zu errichten, für eine lebendige ländliche Region, in der Antworten auf die »Notwendigkeit eines Systemwandels« gefunden und im eigenen Handeln gegeben werden. Helen Britt und Luisa Kleine, die sich über politische Netzwerke kennenlernten, initiierten die ersten Treffen. Daran nahmen hauptsächlich Aktive aus der Klimabewegung teil, die in der ersten Jahreshälfte 2020 in zahlreichen Zoom-Calls ihre Vision einer gelebten Utopie entwickelten. Sie entschieden sich für Nordhessen, eine Region, die mit viel Wald und Wasser gute ökologische Bedingungen für regenerative Landwirtschaft bietet. Und sie machten sich klar: Eine inklusive, partizipative und transparente Form der Selbstorganisation muss auch die Bedürfnisse jener miteinbeziehen, die schon in der Region leben und die Worte »inklusiv« und »partizipativ« womöglich nicht benutzen. Abschotten wollen sie sich nicht.

Über eine Immobilienplattform stieß die damals fünfköpfige Gruppe auf die Fuchsmühle am Rande Waldkappels: Ein altes Mühlengebäude, eine Scheune, ein Backhaus und ein Wohnhaus, eingebettet in einen weitläufigen Garten. Mithilfe von Crowdfunding und über die Gründung einer Genossenschaft, in die auch Leute aus der Nachbarschaft investierten, konnte die Gruppe die Immobilie kaufen. Die Vorbesitzerin entschied sich trotz weiterer Kaufinteressierter für sie. Ihr gefiel deren Idee und der Gedanke, dass wieder junges Leben einziehe – in die Fuchsmühle, und nach Waldkappel. Britt sagt: »Einige Menschen aus der Nachbarschaft haben uns ihre Freude darüber mitgeteilt, dass wir hier frischen Wind reinbringen. Und dass wir die Gegend damit wieder anziehender machen für junge Familien.«

Vernetzungstreffen für »Region im Wandel«-Interessierte im Garten der Fuchsmühle. Fuchsmühle

Leerstand und Überalterung sind in Waldkappel, wie in vielen Dörfern und Kleinstädten, ein bekanntes Problem. Einige der sieben Wohngemeinschaften der Fuchsmühle sind in Häusern untergebracht, die zuvor lange unbewohnt waren. Um weitreichendere Antworten zu finden, gründeten zwei Mitglieder der Fuchsmühle eine »Leerstands-AG«, in der sie mit vier engagierten Waldkappler*innen darüber nachdenken, wie leere Häuser, Grundstücke und Läden wiederbelebt werden können. Bei einigen Veranstaltungen war auch Bürgermeister Frank Koch involviert. »Bekanntere Personen aus Waldkappel, wie der Bürgermeister und der Pfarrer, waren von Anfang an sehr offen uns gegenüber«, sagt Britt.

Manch Alteingesessene begegnen dem Neuzuwachs skeptisch, Britt nennt das freundlich »verhaltene Neugier«. Damit sich alle besser kennenlernen, lud die Gruppe im Sommer 2021 zu Kaffee und Kuchen in ihren Garten ein und veranstaltete gemeinsam mit der Oya-Zeitschrift eine Kulturwoche. Immer wieder bietet die Gruppe älteren Leuten aus Waldkappel Unterstützung im Alltag an, was tatsächlich einige dankend annehmen. Im Gegenzug können Helen Britt und die anderen Neuen von ihnen viel über die Geschichte des Ortes und ein naturnahes Leben lernen. Doch zuletzt, im zweiten Corona-Winter, war wenig möglich. »Die Einschränkungen erschweren das Kennenlernen sehr«, sagt Britt. Im Vergleich zu größeren Städten gebe es kaum öffentliche Begegnungsorte.

Den Jugendlichen vor Ort boten die »AG Jugendarbeit« der Fuchsmühle deshalb an, das alte Mühlengebäude als mietfreien Treffpunkt zu nutzen. Das brachte die Dorfjugend in Bewegung: Auf ihre eigene Initiative hin entsteht in der Nähe des Rathauses jetzt ein Jugendzentrum. Erfolge wie dieser stimmen Britt zuversichtlich. »Die Zeit, in der wir leben, braucht viele Menschen, die sich aktiv für Veränderung einsetzen«, sagt sie.

Auf dem Land sieht sie dafür Handlungsräume. (Miriam Scheibe)

Heinz Frey DORV

HEINZ FREY und die neuen Dorfzentren

Heinz Frey ist Workaholic, und zwar aus Tradition. Diese Mentalität hat er schon als Kind vermittelt bekommen. Morgens um vier Uhr packte er sich und sein Fahrrad auf den Kartoffelroder und fuhr mit seinen Eltern aufs Feld. Um halb acht ging es nach Hause, »schnell umziehen, dann in die Schule«. Nach der Schule ging die Feldarbeit weiter, erst um halb zehn abends, wenn das letzte Stück Stroh in die Scheune geladen war, machte er seine Hausaufgaben. »Ich könnte nie ruhig dasitzen und nichts tun. Ich wüsste gar nicht, wie das geht. Ich habe den Drang, Ideen, die ich habe, umzusetzen, auszuprobieren und weiterzugeben«, sagt Frey.

»Ich könnte nie ruhig dasitzen und nichts tun.«

Heinz Frey

Heinz Frey, 67 Jahre alt, hat weißes Haar und trägt Kinnbart. Dunkle Augenbrauen und eine rahmenlose Brille säumen die jung gebliebenen Augen. Er lebt in Merzenhausen im Kreis Düren »im schönen Rheinland«. Dort ist er seit 1993 Stadtrat. Die Spuren, die er hinterließ, reichen von Bürgerhallen und Sportplätzen, die er baute, Vereinen, die er gründete, bis hin zu Unterricht, den er als Lehrer für Geschichte, Politik, Sport und Mathematik gab. Doch während Frey in seinem Schaffen aufging, baute sich die ländliche Region immer weiter ab. 2002 verließ die letzte Sparkassen-Filiale in Barmen – dem direkten Nachbarort – »den Ort Hals über Kopf«. Für Frey aktivierte das den rheinischen Grundsatz: »Net mulle, besser maache.« Heißt: Nicht klagen, sondern anpacken. Und so startete Frey mit seinen Mitstreiter*innen das Projekt DORV – ein Akronym für das Wortungetüm »Dienstleistungen und ortsnahe Rundum-Versorgung«. Mit diesem steht Frey dafür auf, dass auf dem Land Versorgungssicherheit und ernstzunehmende Strukturen geschaffen werden müssen – einerseits für die älteren Menschen, die dort schon ihr ganzes Leben gewohnt haben und bleiben wollen. Andererseits aber auch, um ländliche Regionen wieder für junge Menschen und Familien lebenswert zu machen.

Nach langen bürokratischen Kämpfen eröffnete er 2004 das erste DORV-Zentrum in Barmen. Das Besondere am Konzept: An einem einzigen gebündelten Ort können Lebensmittel und Briefmarken gekauft, verschiedenste Dienstleistungen erledigt und eben nicht ganz nebenbei im Café kann mit den Nachbar*innen »geklönt« werden. Im DORV-Laden werden regionale Lebensmittel angeboten, wird also regionaler Handel unterstützt. Gleichzeitig können Transportwege eingespart werden, denn die »Leutchen«, wie Frey sie nennt, müssen nicht mehr für jeden Liter Milch ins Auto steigen.

Drei Generationen vor dem DORV-Zentrum DORV

Mittlerweile ist Frey pensioniert und macht enthusiastisch in Vollzeit weiter. In seinem Büro stapeln sich grüne und schwarze Kisten schräg übereinander und füllen so fast die Dachschräge aus. Darin sammelt er Akten, Briefe, Papiere – diese alphabetisch zu sortieren und akribisch abzuheften, ist nicht seine Art. Zu kostbar ist die Zeit, die man viel sinnvoller nutzen kann. Irgendwo, zwischen den Kisten, liegt auch der neue Koalitionsvertrag. Darin steht der Satz: »Wir unterstützen Initiativen zur Schaffung von Orten im ländlichen Raum, die Angebote beispielsweise der Nahversorgung, der Kultur, Bildung und Gesundheitsdienstleistungen bündeln.« Frey lächelt stolz und zufrieden. »Das ist es, woran ich seit Jahren arbeite: Es muss aufhören, Dörfer zerfallen zu lassen, die Digitalisierung bringt Wohnen und Arbeiten wieder zusammen.«

Mittlerweile gibt es über 40 DORV-Zentren in verschiedenen europäischen Ländern, unter dem Namen QuartVier wurde das Konzept auch für Städte übertragbar gemacht. Die Voraussetzung, ein solches DORV-Zentrum zu gründen, ist eine aktive, initiative Bevölkerung. Frey und seine Leute stehen bei der Gründung gern begleitend zur Seite. Der Ablauf ist inzwischen professionalisiert: Auf eine Bürgerversammlung, bei der es um das generelle Interesse am Projekt geht, folgt eine Bürgerbefragung. Was erwarten die Menschen von ihrem DORV-Zentrum? Es soll schon vorgekommen sein, dass ein Befragender am nächsten Tag berichtete: »Ich habe nur einen einzigen Haushalt befragen können, die Flasche Schnaps ist allerdings leer.« Selbst so einen Umtrunk-Abend wertet Frey als Erfolg, denn es trifft den Kern von DORV: Kommunikation und Austausch. Und deswegen sei kein Standort mit dem anderen vergleichbar.

Blick ins Innere bei einer Kulturveranstaltung DORV

»Meine aktuell ganz wichtige Aufgabe ist es, junge Leute zu finden, die unsere Bewegung weiterführen können. Ich bin ja ein Auslaufmodell, das muss man auch mal ganz ehrlich sagen«, sagt Heinz Frey in seinem für ihn typischen Redefluss, der über einige Ausschweifungen letztlich zum Punkt kommt. Um DORV generationenübergreifend attraktiv zu machen, arbeitet Frey gemeinsam mit jungen Menschen am Ausbau von Lieferdiensten und Automatensystemen. Aber das »Klönen« bleibt. In einem europaweiten Projekt von Erasmus+ befasst er sich damit, die DORV-Methode zu verbessern und modernen Standards anzupassen. Denn der Zerfall der Infrastruktur ist das eine Problem, fehlender Nachwuchs das andere.

Eine Förderung des ländlichen Raums beinhaltet daher neben der Versorgung auch die Bereiche Wohnen und Mobilität. Dabei sieht Frey Investitionen in den ländlichen Raum als entscheidend; sowohl für die Klimawende als auch für den Sozialstaat. Einsparen von Wegen, Zeit und letztlich Geld. Durch die Verringerung von Transportwegen, aber auch durch Homeoffice und Co-Working im Dorf, verknüpft mit neuen, intakten Zugverbindungen für das Pendeln zur Arbeit. Dadurch erhöhe sich auch die Lebensqualität – für junge Generationen, die viel Wert auf eine intakte Work-Life-Balance legen. So würden Bedingungen geschaffen, die das Landleben im Grünen attraktiv machen. Eine Unterstützung der ländlichen Strukturen könne man beispielsweise auch über den RegioCent erreichen, den man vergleichbar mit »Aufrunden bitte« an der Kasse spenden könnte – so ist jedenfalls Freys durchaus gewagte Idee.

Durch die Pandemie sieht Heinz Frey positive Impulse für die Veränderung freigesetzt: Vielen wird die Bedeutung des ländlichen Raums bewusster. Aber es gibt noch viel zu tun. Zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens geht Frey schlafen. Kaffee braucht er keinen, um zwischen sechs und acht wieder aus dem Bett zu kommen. Sein Ziel treibt ihn an: Ländliche Regionen sollten nicht nur als Versorgungseinheit und Wohnraum für Städter*innen betrachtet, sondern ihre Potenziale für ein bundesweites ökologisches Leben ernstgenommen und gestärkt werden. (Lea Luttenberger)

Silvia Hennig Matthias Baumbach

SILVIA HENNING und die Ideenwerkstatt Neuland21

Um den ländlichen Raum nachhaltig zu transformieren, braucht es einen langen Atem. Silvia Hennig weiß das gut. Seit vielen Jahren arbeitet sie im Bereich regionaler Entwicklung und Innovationsförderung. Im Gespräch fließen die Lösungsansätze förmlich aus ihr heraus, stets untermalt von umfangreichen Problemanalysen und beispielhaften Anekdoten. Zum Zoom-Gespräch trägt Hennig, 35, eine schlichte weiße Bluse, die offenen Haare fallen locker über eine Schulter. Sie tritt professionell auf.

Nach Zwischenstopps in London, Brüssel und den USA zog die studierte Politikwissenschaftlerin zurück in ihre Heimat Brandenburg, wo sie 2018 Neuland21 gründete – einen Think-and-Do-Tank, der das Land mithilfe von Digitalisierung lebenswerter machen soll. »Ich hatte so viele Ideen, was man in meiner Heimat anders machen kann, ich hätte zwölf Firmen gründen können«, sagt Hennig. Neuland21 soll alle Themen zusammenbringen.

»Gefühlt wollten alle plötzlich aufs Land ziehen.«

Silvia Hennig

Darauf angesprochen, welche Ideen das waren, holt Hennig weit aus. Man merkt, dass sie in großen Zusammenhängen denkt. Neben ihrem Studium und Tätigkeiten im Europäischen Parlament sowie dem Brandenburger Landtag verdankt sie das auch ihren biografischen Erfahrungen. Als sie aufwuchs, in einem 500-Einwohner-Dorf, lag die Arbeitslosigkeit in Brandenburg bei über 20 Prozent. Hennig erlebte mit, wie die kommunale Daseinsvorsorge abnahm, wie Bahnverbindungen eingestellt und Ausbildungsplätze immer rarer wurden.

Dass zahlreiche Menschen damals in Städte zogen, verstärkte den Trend zur Rückentwicklung. »Wenn junge Leute fehlen, geht die Kraft verloren, aus der Situation wieder rauszukommen«, sagt Hennig. Dann, ab 2016, begann sie eine gegenläufige Entwicklung in ihrem Berliner Umfeld zu beobachten. »Gefühlt alle wollten plötzlich aufs Land ziehen.« Nur: Statistisch war das nicht nachweisbar.

Inzwischen belegen zahlreiche Studien diese neue Landlust. Eine der ersten gab Neuland21 2019 mit heraus. Urbane Dörfer. Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen soll, heißt das 64-seitige Dokument, das vor allem Kommunalverwaltungen davon überzeugen sollte, »dass da noch was kommt«. Eine wachsende Zahl junger Menschen nämlich, die durch digitales Arbeiten ortsflexibel sind und der Enge der Großstadt entfliehen möchten. »Die wünschen sich oft vor allem Naturnähe, aber denken so Themen wie Nahversorgung, Ärzte, Schulen und Gastronomie nicht mit«, sagt Hennig.

Solche Aspekte der Lebensqualität, die in der Stadt selbstverständlich sind, müsse man deshalb im ländlichen Raum unbedingt wieder ausbauen. Unabdingbar, sagt Hennig, sei dafür das Engagement von Städten und Gemeinden. Ob Leerstandsvermittlung, Mobilitätsprojekte oder Vereinsplattformen: »Man braucht dafür immer die Verwaltungen.« Die sollten mithilfe der Forschungsergebnisse zum Investieren angeregt werden. »Wir kennen viele junge Familien, die aufs Land ziehen möchten. Aber damit die wirklich kommen, brauchen sie noch ein paar Voraussetzungen«, sagt Hennig. Das ist der Kern ihres Ansatzes. Die Argumentation zog vielerorts. In Bad Belzig, zum Beispiel, so gut, dass die Kreisstadt 2019 zur Smart City wurde. Große Summen wurden in den Ausbau digitaler Infrastruktur investiert und Neuland21 verlegte seinen Vereinssitz in den Brandenburger Kurort.

Neuland21-Team vor dem Coconat in Bad Belzig, einem der ersten Co-Working-Spaces in Brandenburg. Nadine Kunath

Trotzdem: Die Mehrheit der Kommunen mache in dieser Hinsicht wenig. Das liege vor allem an fehlenden Rahmenbedingungen. Hennig sagt: »Es gibt kaum Ressourcen für Innovation.« Das meint sie nicht nur finanziell, auch Personal fehle. Und insbesondere ältere Verwaltungsmitarbeiter*innen begegnen der Digitalisierung Hennigs Erfahrung nach oft mit Unlust oder Skepsis.

Statt sich an deren Renitenz abzuarbeiten, fokussiert der Verein sich auf diejenigen, die zur Zusammenarbeit bereit sind. Und das sind immer noch einige. Zehn Projekte haben sie gerade parallel am Laufen, sagt Hennig. Eine Klimawerkstatt in Bad Belzig etwa, die Daten zu örtlichen Umweltaktivitäten sammelt, um Aktive und Politik zu vernetzen. Oder ein Portal zur Leerstandsvermittlung in Wittenberge. Mit dem Landkreis Potsdam-Mittelmark erarbeite man gerade eine Digitalisierungsstrategie und in fünf Gemeinden im Fläming und der Stadt Brandenburg hat Neuland21 eine Programmierwerkstatt für Kinder initiiert.

Bei der Dorfbevölkerung kämen die Projekte meist gut an, auch den digital Arbeitenden stünden sie grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Hennig sagt: »Den Kindern in der Programmierwerkstatt und ihren Eltern ist es egal, wo ihre Betreuerin herkommt, solange sie Programmieren lernen.« Interessenskonflikte zwischen Neuzuwachs und Alteingesessenen gebe es zwar durchaus, doch Hennigs Erfahrung nach »ist eigentlich überall auf dem Land willkommen, wer sich engagiert und einbringt«.

Potenziell verschärft werde die Situation jedoch durch eine neuere Entwicklung, die Hennig mit Sorge betrachtet: »Landleben wird immer mehr Luxusgut.« Vor drei Jahren habe man nicht von einer »Gentrifizierung der Dörfer« sprechen können. Inzwischen sei das anders. »Die Immobilienpreise schießen nach oben und die Leerstandsquoten haben sehr abgenommen«, sagt Hennig. »Eigentlich können sich nur noch Besserverdienende Eigentum leisten.« Und das ist eben oft die zugezogene Mittelschicht aus der Stadt. Junge Menschen, die bleiben wollen, oder Rückkehrende, haben dabei oft das Nachsehen. Hier sieht Hennig die Politik in der Verantwortung. Es gebe nach wie vor schrumpfende Regionen, sagt sie. Um die einerseits anziehender und andererseits zugänglicher zu machen, benötige es bessere Verkehrsinfrastrukturen und mehr Ressourcen vor Ort auf dem Land. Und nicht nur in suburbanen Neubausiedlungen.

Zu der grundsätzlichen Frage, ob es wirklich sinnvoll sei, öffentliches Geld in schrumpfende Gegenden zu stecken, sagt sie: »Der ländliche Raum im Osten ist nach 30 Jahren Abwanderung und wirtschaftlich-demografischer Abwärtsspirale längst am Boden angekommen und seit 2017 ist die Talsohle durchschritten. In dem Jahr hat die Ost-West-Wanderung aufgehört, und die für den Osten so wichtige Metropole Berlin hat 2020 angefangen, mehr Wegzüge als Zuzüge von Inländern zu registrieren.«

Es gebe eine Bewegung von Berlin ins Umland, aber auch nach Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Und auch die Schrumpfung mancher Regionen sei kein Schreckensszenario mehr. Sie rechnet vor: »Wenn sechs alte Leutchen das Zeitliche segnen, deren Einfamilienhäuser frei werden und dafür vier junge Erwachsene oder zwei Familien zuziehen, ist für die Gemeinde trotz Schrumpfung eine Verjüngung und damit ein Plus an Vitalität gewonnen. Das ist das, was zählt.« (Miriam Scheibe)

Christian Hiß Jonas Rohloff

CHRISTIAN HISS und die neuen Aktienbauernhöfe

Das Höfesterben auf dem Land ist ein Problem – und zwar für Christian Hiß ebenso ein persönliches wie ein gesellschaftliches. Geboren 1961 wuchs er in Eichstetten bei Freiburg im Breisgau auf einem ökologisch wirtschaftenden Hof auf – damals, so erzählt er, etwas sehr Fortschrittliches. Das Problem, für das er eine Lösung suchte, war, dass es dringend außerfamiliäre Hofnachfolge brauchte, die es aber nicht gab.

»Ich möchte Wertschöpfungsräume aufbauen, die in sich immer resilienter werden.«

Christian Hiß

Familienbetriebe werden in der Regel an eines der Kinder vererbt. Wenn von denen keines den Hof übernehmen möchte, ist dessen Zukunft ungewiss. Gleichzeitig gibt es viele ausgebildete Landwirt*innen, die jedoch nicht das nötige Geld haben, einen solchen leerstehenden Hof zu kaufen. Selbst Landwirt, wollte Hiß seine drei Söhne nicht in die Bedrängnis bringen, sich für die Weiterführung seiner Betriebe verantwortlich zu fühlen. Das war sein persönliches Problem. Gesellschaftlich galt es, eine Form zu finden, die den rasanten Abbau landwirtschaftlicher Betriebe stoppt – in den letzten Jahrzehnten sank die Anzahl von einer Million auf zweihunderttausend.

Hiß ist ein Denker, beim Reden schließt er oft die Augen, nimmt seine ovale schwarz umrandete Brille ab und setzt sie wieder auf. Wenn er keine Antwort hat, gibt er keine. »Das kann man nicht generalisieren« und »das muss man sich im Einzelfall anschauen« sind Sätze, die er dann sagt. Mit dieser Vorsicht plante Hiß und organisierte über zehn Jahre Bürger*innen Thinktanks. 2006 gründete mit der Regionalwert AG seinen Lösungsansatz für das Fortbestehen der Landwirtschaft in Form einer Bürgeraktiengesellschaft. Landwirtschaftliche Betriebe werden in den Besitz der Bürger*innen übertragen, wobei ein Schwerpunkt auf der Förderung sozialökologischer Werte liegt. Für Hiß bedeutet das auch eine Vorwärtsgewandtheit ländlicher Lebensformen.

Die Idee der Regionalwert AG ist die folgende: Leute, beispielsweise aus der Region Freiburg, können ihr Geld in der Aktiengesellschaft anlegen. Mit diesem Geld kauft die Regionalwert AG leerstehende Höfe auf – zum Beispiel in Eichstetten, die dann an angehende Landwirt*innen verpachtet werden können. Dabei ist das Geld in erster Linie das Mittel, um die Höfe zu erhalten. Statt ihren angelegten Betrag von 500 Euro pro Aktie zu erhöhen, bekommen die Aktionär*innen Werte wie eine steigende Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität durch die geförderte Vielfalt landwirtschaftlicher Betriebe als Rendite. Das nötige Wissen, dieses Prinzip umzusetzen, eignete sich der gelernte Gärtner Hiß zwischen 2006 und 2011 in einem Master-Fernstudium in Social Banking und Social Finance an. Was zunächst seine Kinder entlastete, wuchs so bald zu einem Betrieb an, der nicht nur individuelle Zukunft vorausdenkt, sondern auch die Vernetzung und den Dialog von Stadt und Land voranbringt.

Blick in die Gärtnerei Querbeet in Eichstetten am Kaiserstuhl. Der alte Traditionsfamilienbetrieb Hiß ging 2006 in das Eigentum der Bürgeraktiengesellschaft Regionalwert AG über. Felix Groteloh/Regionalwert AG

»Regionalwert AG bedeutet, sich beteiligen zu können: als Aktionär oder Betrieb. Sie eröffnet Möglichkeitsräume mit dem spezifischen Zweck der Ökologisierung der Land- und Ernährungswirtschaft«, fasst Hiß zusammen, was die Menschen von seiner Aktiengesellschaft haben.

Über die Jahre wurde das Prinzip der Regionalwert AG auf die gesamte Wertschöpfungskette ausgeweitet. Nicht nur landwirtschaftliche Betriebe gehören zu den Partnerbetrieben der Regionalwert AG, sondern ebenso Verarbeitungsbetriebe, Hofläden und Restaurants. »Ich möchte Wertschöpfungsräume aufbauen, die in sich immer resilienter werden«, sagt Hiß. Die konkrete Beteiligung für die Aktionär*innen erfolgt bei einer jährlichen Hauptversammlung »mit tollem Buffet«, wenn es die Situation zulässt. Dort können sie mitbestimmen, welche Hauptschwerpunkte im kommenden Jahr bei der Bewirtschaftung verfolgt werden sollen. Über mehrere Stunden wird diskutiert, gegessen, getrunken und am Ende abgestimmt, ob man den Vorstand und den Aufsichtsrat der Regionalwert AG entlastet.

Als Ausgleich zur Arbeit hinter dem Schreibtisch hilft Hiß gern auf den Höfen in der Region aus. Fährt Kompost. Er wohnt weiterhin in Eichstätten, läuft morgens einen Kilometer zu seinem Büro, in dem er mit mittlerweile 15 jungen Mitarbeiter*innen sitzt. Wie bei seinen eigenen Kindern treibt es ihn an, ihnen bei ihrer Entwicklung zuzusehen. Mit Regionalwert Leistungen arbeitet er mit ihnen an der Möglichkeit einer standardisierten Erfassung von sozioökonomischen und ökologischen Markern auf Höfen. Damit soll transparent nachvollziehbar sein, welche Leistungen die Betriebe für das Gemeinwohl erbracht haben, denn ein Teil des Regionalwertkonzepts ist, dass der Hofladen weiß, von welchem Hof der Salat kommt, den er verkauft. »Die sollten wissen, für wen sie arbeiten, und nicht nur für einen anonymen Markt«, sagt Hiß.

Aufgrund dieser transparenten Vernetzung ist eine Verbreitung der Regionalwert-AG-Idee auch in städtische Regionen möglich und auch schon aktuell. Mittlerweile gibt es deutschlandweit acht AGs, die sich von Freiburg bis Hamburg erstrecken, sowie weitere in Österreich, Luxemburg und Spanien.

Hiß tut seinen Teil, um die sozialökologische Wende voranzutreiben, sieht aber auch Verantwortung bei der Politik. Je gemeinwohlorientierter ein landwirtschaftlicher Betrieb arbeitet, desto teurer ist das Produkt, weil Werte wie Regionalökonomie, Ökologie oder Resilienz über dieses gezahlt werden. Um die Leute beim Einkauf zu entlasten, entwickelt er andere Konzepte. Beispielsweise könnten die Mehrkosten aus EU-Agrarzahlungen gedeckt werden. Christian Hiß sagt: »Zahlt doch bitte die Leistungen, anstatt die Schäden einer in die Masse ausgerichteten Landwirtschaft.« (Lea Luttenberger)

taz FUTURZWEI N°20 „Landlust“

Dieser Beitrag ist im März 2022 in taz FUTURZWEI N°20 erschienen.