Vereinigungsgedanken (Teil 4) : „Für mich war der Tag der deutschen Einheit eine moralische Niederlage“
Die DDR hat Kadriye Karci (44) das Leben gerettet. Verfolgt vom türkischen Staat fand die überzeugte Kommunistin 1985 Zuflucht in Ostberlin
Vor 15 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt – so der offizielle Sprachterminus. Viele jubelten, einige trauerten und manche ängstigte, was aus diesem Land werden könnte. Die taz lässt bis zum 3. Oktober Menschen zu Wort kommen, die damals in Berlin waren und die Atmosphäre in der Stadt beschreiben.
„Für mich brach am Tag der deutschen Einheit im wahrsten Sinne des Wortes eine Welt zusammen. Ich war 1985 über Bulgarien in die DDR gekommen. Offiziell galt ich als Delegierte der Türkischen Kommunistischen Partei. Doch der eigentliche Grund, warum ich in die DDR kam, war: Ich musste aus politischen Gründen aus der Türkei flüchten. Ein Jahr hatte ich dort bereits im Untergrund gelebt. Irgendwann entschied die Partei, dass ich ins Ausland gehen soll. Die DDR nahm mich auf.
Allzu viel hatte ich in all den Jahren von der DDR nicht mitbekommen. Ich wusste nichts von einer unterdrückten Opposition oder dass es keine Meinungsfreiheit gab. Vielleicht wollte ich davon auch nichts wissen. Die DDR war für mich eine Idealgesellschaft. Ich war damals einfach glücklich, in einem sozialistischem Land leben zu dürfen. Ich bekam Geld, einen Studienplatz und die Sprachkurse wurden mir auch finanziert.
Das neue Land bot mir eine neue politische Heimat. Dass ich an den Sitzungen von der FDJ oder der SED nicht teilnehmen durfte, störte mich nicht. Wir hatten unsere eigenen Sitzungen, auf der wir Außenstehende auch nicht zuließen. Erst in den letzten beiden Jahren vor der Wende, als ich mit deutschen Kommilitonen in der damaligen Sowjetunion beim Studentensommer war, erfuhr ich von der Stasi.
Und plötzlich kam der Mauerfall. Den 3. Oktober 1990 fand ich schrecklich. Es ging ja alles so schnell. Natürlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt, dass nicht alles gut war in der DDR. Und dennoch empfand ich den Tag als moralische Niederlage. Uns blieb ja nicht mal Zeit, Gegenvorschläge zu entwickeln, dieses System zu verteidigen.
Und trotzdem behalte ich den 3. Oktober auch als besonderen Tag in Erinnerung. In der Nacht zum 2. auf den 3. Oktober landeten meine Eltern in Schönefeld. Es war das erste Mal seit meiner Flucht, dass ich sie wiedersehen würde. Den Flughafen kontrollierten bereits Polizisten der BRD. Meine Eltern durften aber noch nach DDR-Recht einreisen. Und das hieß: ohne Visum. Trotz der Niederlage, die ich an diesem Tag empfand, konnte ich dem neuen Staat doch noch ein Schnippchen schlagen, dachte ich.
Im neuen Deutschland hatte ich es anfangs sehr schwer. Mein Diplom, das ich an der Humboldt-Uni absolvierte, wurde zwar anerkannt, aber mit meinem Fach „Marxistische und Leninistische Philosophie“ fand ich natürlich keinen Job. Auch die türkische Community akzeptierte mich nicht. Ich wusste von ihnen, sie aber nicht von den Türken in Ostberlin. Viele waren uns gegenüber misstrauisch.
Heute weiß ich natürlich um das Unrecht, das in der DDR geschah. Das möchte ich auch nicht verteidigen. Und dennoch finde ich, hätte man den Vereinigungsprozess langsamer angehen können. Vor allem aber hätte man die Menschen der DDR mehr einbeziehen können. Sie haben auch was zu sagen.
Inzwischen habe ich meinen Frieden mit diesem Land geschlossen. Ich arbeite als Sozialberaterin, habe einen Sohn, wohne nach wie vor in Ostberlin und meine politische Heimat habe ich in der PDS. Den 3. Oktober werde ich in Brandenburg verbringen. Für mich und meinem Sohn beginnen an diesem Tag die Herbstferien.“
PROTOKOLL: FELIX LEE