„Natascha ist ein riesiger Kuchen“ (Ludwig Koch, Vater von Natascha Kampusch)

Da kann sich doch jeder ein Stück abschneiden: Der Fall Natascha Kampusch erregt sagenhaftes Interesse, weil er individuellen Fantasien Futter gibt. Ein gerne genossener Leckerbissen - und zwar nicht nur auf dem Boulevard
Von Martin Reichert

FRAUEN

Natascha Kampusch wurde „vom Opfer zur ,Ich-weiß-wo-es-lang-geht-Frau‘“ (Die Welt) die ihrem Peiniger laut eigener Angabe ab einem bestimmten Zeitpunkt in Augenhöhe gegenüberstand - die Erzählung handelt von einem „Kind, dass zur Frau geworden ist“ (Der Tagesspiegel) - und sich gegen alle Widerstände emanzipiert hat, gegen den Widerstand ihres männlichen Unterdrückers. In den Worten Natascha Kampuschs: „Ich wuchs heran zu einer jungen Dame mit Interesse an Bildung und mit menschlichen Bedürfnissen“. Die zunächst reflexhaft unterstellte, später zum Tabu erklärte Mißbrauch- Konstellation wurde nicht ausgebaut, übrig bleibt vielmehr die Mut machende Erkenntnis: „Sie ist kein Opfer“ (Der Tagesspiegel). Vielmehr handele es sich bei Natascha Kamphaus um eine „willensstarke“ (Der Spiegel) Frau, die eine Stiftung für verschwundene Frauen in Mexiko gründen möchte. Folgerichtig soll sie in New York von Michael Gorbatschow zur „Woman of the Year“ erklärt werden. Toll!

MÄNNER

Männer und ihre scheltenswerten Phantasien: „Nach den achteinhalb Jahren im Keller geht sie staksig, fast wie eine Holzpuppe...Ihre Haut ist kreidebleich, fast pergamentartig“ (Der Spiegel). Natascha, die schöne Puppe, die künstliche Frau, geformt nach den Vorstellungen des tragischen Unholds Wolfgang Priklopil, jenes „monströsen Protagonisten“ (Der Tagesspiegel), der seine Liebe nur leben kann, indem die Geliebte seiner totalen Kontrolle unterwirft. Ein Dr. Higgins (“My Fair Lady“, vgl. Bildungsbürger) aus der der Vorstadt, der sich „mit dem fremden Mädchen die Frau fürs Leben heranziehen wollte“ (Der Tagesspiegel). Schief gegangen: „Trotzdem zeigt ihre Androhung, sie werde voyeuristische Grenzüberschreitungen ,ahnden‘ auch einen Zug ins Herrische. Hier äußert sich ein zur Kompromisslosigkeit erzogener Mensch, eine Rapunzel, die zu bestimmen weiß, wer in ihren Turm darf und wer nicht“ (Der Tagesspiegel). Angst!

Linke Intelligenz

Jean-Jacques Rousseau, einer der Väter der sozialistischen Idee und Pate der Kulturkritik, hätte wahrscheinlich seine Freude an Natascha Kampusch gehabt: „Émile“ funktioniert! In seinem pädagogischen Hauptwerk schilderte er die fiktive Erziehung eines Jungen, der von allen kulturellen Einflüssen abgeschottet wird – die sozialen Instinkte sollen sich entfalten. Natascha Kampuschs Entwicklung zu einer „intelligenten“, „gebildeten“ Frau unter „Laborbedingungen“ (Welt) fesselt Pädagogen: Aus jedem Menschen kann noch etwas Gutes werden, wenn er nur die richtigen Bücher liest und Zugang zu Bildung hat: Nun liest sie „Qualitätspresse“ und spricht mit „gestochenen Worten“. Ihr Schicksal wirft die Frage „Was bedeutet Bildung?“ (Welt) auf. Natascha Kampusch funktioniert insgeheim als moderner Kaspar Hauser, als intellektueller Mogli, den zu untersuchen und zu analysieren eine wahre Herausforderung darstellt. Anschlussfähig auch für all jene, die sich mit dem Thema Strafvollzug (Folter, Isolation) beschäftigt haben – in diesem Zusammenhang ist Natascha Kampusch eine „aus dem Leben Gerissene“ (Freitag) von vielen. Zugleich ist sie allerdings aus kulturkritischer Perspektive ein „Opfer der Medien“ (taz), sodass sich eine ausführliche Analyse eigentlich verbietet. Der Boulevard ist laut und ordinär, dabei lassen sich die interessanten Fragen doch auch gemütlich-leise beim abendlichen Rotwein durchdiskutieren. Komplex!

RECHTE INTELLIGENZ

Im Falle einer solchen Entführung muß man natürlich auch über „mehr Überwachung und Kontrolle“ (Der Tagesspiegel) nachdenken, schließlich ereignete sich das Verbrechen inmitten einer „völlig normalen“ Kleinbürgerwelt. Die FAZ weiß jedoch: „Es war die Kraft der Abstraktion, mit der sie dem empirischen Desaster standgehalten und ihm endlich entkommen ist“. Die Welt hingegen möchte gleich die „Generation Golf samt ihrem Leitwolf zu Natascha Kampusch in die Schule schicken, auf dass sie bei ihr lerne, was es bedeutet ein Mensch zu sein und kein blödes Herdentier“. Natascha Kampusch wird zur erlösenden Eliteschülerin - „den Konjuktiv verwendet sie richtig“- die sich im Gegensatz zu anderen Österreichern ordentlich artikulieren kann. Eine „Wiederauferstandene“, in den „Heiligenstand erhoben“. Und zur Kronzeugin für die Richtigkeit, at last, der vermeintlich schwarzen Pädagogik: „Nur indem der Mensch durch Prüfungen geht, wird er groß. Dieses vom Leben-Auf-die-Probe-gestellt- Werden, dieses sich-Bewähren und Dadurch-Kraft-Gewinnen: Das ist es, was die Leidgeprüfte der Mehrzahl der Mitläufer von heute vorraus hat“. Chapeau!

HOBBYKELLER-PSYCHOLOGEN

Noch der letzte analytische Ansatz Sigmund Freuds ist längst auf den Stand alltäglichen Wissens durchgesackt und fast jeder hat schon einmal eine Therapie gemacht: Zu Natascha Kampusch fällt nun wirklich jedem etwas ein, da braucht man gar keine Fernsehexperten: Natürlich ist das „Opfer“ schwerst „traumatisiert“ (Die Welt) und hat die schrecklichen Erlebnisse „abgespalten“ (Der Spiegel). Elaborierter die Frage, ob sie unter dem „Stockholm-Syndrom“ leide, laut FAZ keineswegs (“Schicksalsgemeinschaft“), dem „Tagesspiegel“ zufolge durchaus, letzterer kennt sich aus mit „Urvertrauen“ und „Gehirnwäsche“. Und weiß dank befragter Expertin: „So ein Mensch zieht die ganzen Beziehungsgestörten dieser Welt an“. Die wissen genau, was gemeint ist mit „einem Pakt“, den man mit sich selbst geschlossen hat, haben jede „Strategie“ (Die Zeit) bereits durchdacht und ahnen, dass es in Natascha Kampuschs Familie ein „dunkles Geheimnis“ (Der Spiegel)geben muss. Gut, dass wir darüber geredet haben!

MOTIVATIONSTRAINER

Sie hat es geschafft, hat „zum zweiten mal das Licht der Welt erblickt“ bzw. ihre „Rückkehr in die Oberwelt“ vollbracht (beides „Der Tagesspiegel“. Dort unten hat sie „durchgehalten“ und eine „anrührende menschliche Reife entwickelt“ - immer „von einer Hoffnung getragen: Ich schaffe es“ (alles „Die Welt“). Sie hat in einer „Extremsituation Gegenstrategien entwickelt“ und ihre „Ohnmacht überwunden“ (beides „Die Zeit“). Nun läuft ihr Leben, das Leben der „Heldin“, wieder nach „ihrem Drehbuch“ (beides „Der Spiegel“). Ja, es war eine Geschichte von „David und Goliath“ (“Die Welt“), daher ist es nach diesen Erfahrungen „kein Wunder, dass sie auch trotzig, ja hart wurde“ (“Der Tagesspiegel“). Nein, „man hatte sie vergessen“, aber sie „zerbrach nicht an ihren Gefühlen, sondern wurde wieder stark“ (beides „Der Spiegel“). Sind wir nicht alle Gefangene unserer selbst ? Sorge Dich nicht, lebe!

BILDUNGSBÜRGER

Eine Geschichte, man könnte sie nicht erfinden. Oder doch? Der Fall Natascha Kampusch, „eine schwer beschreibbare Osmose zwischen Literatur und Realität“ (“Die Zeit“). Zentraler Andockpunkt, richtig vom „Tagesspiegel“ aufgegriffen: Der „Pygmalion“-Mythos in George Bernhard Shaws Bühnenadaption, später popularisiert durch das Musical „My Fair Lady“: Der Sprachforscher Dr. Higgins verspricht einem Blumenmädchen, es zur Herzogin zu erziehen. Und scheitert, weil er sich in sein Geschöpf verliebt. Bereits 1770 hatte Jean Jacques Rousseau den Mythos in seinem Theatermelodram „Pygmalion“ verarbeitet: Der Statuenmacher Pygmalion, der Venus bittet, seiner künstlich geschaffenen Traumfrau Leben einzuhauchen. „Die Zeit“ erkennt im Schicksal der Natascha Kampusch einen „Bildungsroman“, die „FAZ“ wähnt sich in einem „bösen Märchen“ - und „Die Welt“ fühlt sich an „Rotkäppchen, das den Wolf austrickst“ erinnert. Die „FAZ“ liefert jedoch gleich eine ganze Literaturliste zum Thema Natascha Kampusch: Dürrenmatts „Das Versprechen“; Nabokovs „Lolita“, John Fowles „Der Sammler“ und Ian MacEwans „Ein Kind unserer Zeit“. Die FAZ hat nur einen Film anzubieten: Ron Howards „Kopfgeld“. „Der Tagesspiegel“ wartet hingegen mit Hitchcocks „Psycho“ (Priklopil als Muttersöhnchen Norman Bates, vgl. „Männer“) und Jonathan Demmes „Schweigen der Lämmer“. Schade, dass Jodie Foster für die Rolle der Natascha Kampusch einfach zu alt ist.