Jan Söffner über politische Regression : Kaninchen am Ende der Geschichte
Überraschung! Moderne, aufgeklärte, global vernetzte Wohlstandsgesellschaften können sich in kürzester Zeit in das zurückverwandeln, was sie überwunden zu haben glaubten: in Militärstaaten.
Von JAN SÖFFNER
Man sagte uns, dass Krieg aus ökonomischen Gründen unmöglich geworden sei […] in dieser Zeit internationaler wirtschaftlicher Abhängigkeit, unentwirrbar miteinander vernetzter Kommunikation und wechselseitiger finanzieller Verpflichtungen würde bereits der Selbsterhaltungstrieb die kriegerischste Nation von dem selbstmörderischen Angriff auf die eigenen Lebensgrundlagen abschrecken. […]
Man sagte uns, dass der Materialismus unserer Zivilisationen unsere Welt retten würde – die Liebe zum Wohlstand, der Hedonismus, die Abkehr vom Idealismus würde sich gegen jede Art kriegerischer Opferbereitschaft richten. […] Man sagte uns, dass der Krieg technisch unmöglich geworden sei. Allein schon die Zerstörungskraft der Kriegsmaschinerie mache ihre Anwendung zu riskant. […]
Und man sagte uns, dass der Krieg moralisch unmöglich geworden sei. Die Nationen, waren sie auch bis zu den Zähnen bewaffnet, beschworen immer, dass sie keinerlei kriegerische Absichten hätten. Das mag zwar heuchlerisch gewesen sein, doch war es auch der Preis, den die Sünde an die Tugend zu zahlen hatte – solche Rede belegte, dass der Militarismus in der Defensive war.
Die globalisierte, postheroische, technologisch über den Krieg hinausgewachsene und moralisch überlegene Welt, von der in diesem langen Zitat die Rede ist, war nicht diejenige vor dem 24. Februar 2022, sondern diejenige vor 1914. Der US-amerikanische Publizist Randolph Bourne, der mit nur 32 Jahren an der Spanischen Grippe sterben sollte, eröffnete seinen Essay The Disillusionment (Die Ernüchterung) mit den zitierten Sätzen. Gewidmet ist er der Überraschung, dass mit Anbruch des Ersten Weltkriegs das Unmögliche geschehen war. Die modernen, aufgeklärten, global vernetzten Wohlstandsgesellschaften hatten sich in kürzester Zeit in genau das verwandelt, was sie nachhaltig überwunden zu haben glaubten: in Militärstaaten.
Bourne widmete dieser Überraschung auch sein posthumes Hauptwerk The State. Darin beobachtete er, wie Ideologien den politischen und wirtschaftlichen Pluralismus ausschalteten, wie politische Meinungsäußerung zu Landesverrat, Wohlstand den Kriegszielen, Freiheit dem Militarismus geopfert wurde, wie hierarchische Befehlsketten die komplexe Architektur der Verwaltung ablösten, staatliche Symbole mit der Aura des Heiligen belegt wurden und so weiter und so fort.
Er fasste diese Beobachtungen in einer Theorie zusammen, der zufolge auch in friedlichen staatlichen Zusammenhängen immer die Möglichkeit der Regression auf militärische Organisationsformen gegeben ist. Letztere nannte er pauschal »The State«. Vielleicht sollte man besser übersetzen: die Staatlichkeit, denn diese unterschied er von der konkreten institutionellen Politik und dem Land (»country«). Staatlichkeit verlor seiner Theorie zufolge in Zeiten von Frieden, Wohlstand und Freiheit an Gewicht. Sie »erkrankte«, wie er es metaphorisch ausdrückte – und gerade die »Krankheit« ermöglichte die demokratische Kontrolle der Regierungen und die Sorge um Freiheit und Wohlergehen der Bevölkerung. Im Krieg indes »gesundet« die Staatlichkeit – »War is the health of the State«, lautet die Kernthese seines Essays.
In sehr kurzer Folge ist Europa nun durch zwei Überraschungen gegangen, die an diese Gedanken erinnern. Zum einen war da die Corona-Pandemie: Über Nacht wurden die Gesellschaften auf eine Weise umgekrempelt, die dem lange überwunden geglaubten Disziplinarstaat ähnelten. Michel Foucaults Überwachen und Strafen schien zum Handbuch zu werden: die Menschen wurden »parzelliert« und vereinzelt (Quarantänen, Reiseverbote, Bodenmarkierungen, Kacheln auf Videokonferenzen, Sperrstunden, Abstandsgebote und so weiter vereinzelten sie); sie wurden überwacht (in manchen Staaten bis hin zum Drohneneinsatz, oft auch wechselseitige Nachbarschaftsüberwachung) und ihre gelehrigen Körper wurden erzogen (Nießetiketten, Begrüßungsschuhplattler und mal höfliche, vor allem aber ängstliche Distanzierung).
Der Staatlichkeit unterstanden auf einmal Bereiche, die ihr kurz zuvor völlig unzugänglich gewesen wären. Mit Ferdinand Tönnies‘ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft lässt sich zudem sagen, dass Schockkooperation die plurale und offene Gesellschaft durch Gemeinschaftsbildung ersetzte. Diese biopolitische Blitzgesundung begann erst nach Wochen zu bröckeln und brachte in diesem Bröckeln die abstrusesten Verschwörungstheorien auf der einen und Corona-Nostalgie auf der anderen Seite hervor: War es denn nicht schön, als wir alle an einem Strang zogen?
Wohlstand und ökonomische Verflechtung werden militärischen Verpflichtungen geopfert
Auch der Kriegsausbruch in der Ukraine, die zweite große Überraschung, bestätigt Bourne. Bürokratien wurden in Befehlsketten umgewandelt, Zweifel in Russland verboten und unter Strafe gestellt, vordem bestenfalls merkwürdig anmutende Symbole (wie der ukrainische Dreizack) gewannen die Aura der Heiligkeit. Narrative füllten jene Lücke, die in die Routinen des Alltags gerissen wurden. Sie begannen mit Wladimir Putins »Geschichtsstunden« (Emanuel Macron): erzählerisch gebündelten Konflikten und Ressentiments, die an die Stelle diplomatischer Verträge und Abmachungen traten. Wolodymyr Selenskyj griff auf der anderen Seite mutig auf eine bereits im Fernsehen gespielte Rolle als aufrechter Präsident zurück und übersetzte die fiktive Erzählung in Taten.
Wohlstand und ökonomische Verflechtung wurden auch im Westen, ganz im Sinne Bournes, militärischen Verpflichtungen geopfert; Begriffe wie »Schicksalsgemeinschaft« geisterten durch die Feuilletons (im Klartext: metaphysische Notwendigkeit statt dem offenen Horizont des Möglichen in Kombination mit der Ablösung pluraler Gesellschaften durch geeinte Gemeinschaften); und ohne viel Federlesens zu machen, gesundeten die vorher bestenfalls für siechend, schlimmstenfalls für bereits tot gehaltenen Institutionen der Nato, EU und des deutschen Verteidigungswesens.
Die Überraschung ging aber nie so weit wie bei Bourne. Sowohl die Corona-Zeit als auch die Kriegszeit sind in Europa von einem Innehalten der Staaten vor ihrer vollständigen Gesundung gekennzeichnet. Auf der Suche nach einem Grund dafür stößt man leicht auf die Erfahrung der Überraschung der »Wende« von 1989; die ebenfalls angekündigt war: der Stanford-Historiker Francis Fukuyama hatte sie schon im Vorfeld haarklein ausbuchstabiert. Die frohe Botschaft seines Endes der Geschichte – lag darin, dass der Kalte Krieg nicht von Militärstaaten gewonnen wurde, sondern von den westlichen Demokratien, die bereit waren, ihre Militärstaatlichkeit zugunsten des Wohlstands und der Anerkennung auch protestierender freier Bürger zurückzustellen.
Ob diese Überlegenheit eines minimalisierten Militärstaats aber auch in jener anderen Welt ausgespielt werden kann, in der wir, mit Annalena Baerbock gesprochen, am 24. Februar aufgewacht sind? Vielleicht sollten wir uns nicht zu sicher sein. Auch die gegenwärtigen Überraschungen waren lange angekündigt: Die globale vertragsbasierte und von Demokratien getragene Ordnung war nicht in der Lage, die drängendsten Probleme bezüglich des Überlebens auf diesem Planeten anzugehen, und hat damit an Überzeugungskraft verloren. Populistische Bewegungen höhlen (unter anderem befördert durch Putin) das Ende der Geschichte aus. Globale Lieferketten stellen sich als anfälliger heraus als gedacht. Kriege und Spannungen blieben auch im Ende der Geschichte bestehen – man hielt sie bloß auf Distanz und verteidigte die Demokratie am Hindukusch und ist nun plötzlich überrascht, wenn der »Krieg in Europa« eine neue Nähe suggeriert.
Krisen bringen eine fatale Tendenz zum Erstarken von Staatlichkeit mit sich
Die Eingeborenen des Endes der Geschichte bleiben damit im Modus der Überraschung stecken, nicht weil all das, was passiert, so irrational wäre, sondern weil sie die Empörung über die Irrationalität der Welt als höhere Rationalität verkaufen wollen und ihrerseits keine Ideen haben, die mehr brächten als immer neue Klimakonferenzen gegen die Erderwärmung.
Immerhin hat Olaf Scholz eine »Zeitenwende« ausgerufen; aber das Wort ist zweideutig: »Wende« hört sich in Deutschland immer gut an, so als lebten wir noch im Ende der Geschichte; und es klingt so, als gebe es eine neue Richtung, in die wir unterwegs wären, dabei ist eigentlich der Stillstand kaum zu übersehen, der es von Tag zu Tag schwerer macht, sich darüber hinwegzutäuschen, dass immer neue Fragen auf keine Antwort mehr warten können – und darüber in den Modus der Überraschung übergehen.
Solche Momente der absehbaren Überraschung nennt man Krisen – und trotz seiner inzwischen inflationären Verwendung ist das noch immer der beste Begriff. Das Wort Krise leitet sich vom griechischen krinein her, das sowohl entscheiden als auch unterscheiden heißt. Krise ist dann, wenn etwas umfassend anders ist, sich ein Unterschied ereignet hat – und zwar ein solcher, der, um es mit Reinhart Koselleck zu sagen, eine Entscheidung fällig macht, die aber noch nicht gefallen ist. Krisen kommen damit als Überraschungen, als etwas Fremdes daher, das erst nach der Entscheidung Sinn ergibt.
Genau aufgrund dieses Drängens auf Entscheidungen haben Krisen eine fatale Tendenz zur Gesundung der Staatlichkeit. Denn wo es um Entscheidungen geht, zumal dann, wenn alte Regeln und Verträge nicht mehr fruchten, fragt sich meist zunächst einmal, wer sie trifft: Krisen münden damit leicht in Situationen, in denen, um es mit Carl Schmitt zu sagen, jemand zum »Souverän« wird, indem er »über den Ausnahmezustand entscheidet«: Ein Faszinosum für Schmitt, der auf dieser Grundlage die juristische Legitimation des Nationalsozialismus errichten sollte; ein Gräuel für den bis zum Anarchismus freiheitsliebenden Amerikaner Bourne; eine Schlange, vor der wir Kaninchen des Endes der Geschichte, nach kurzer Faszinationsphase, nun schon zweimal sitzen geblieben sind.
Vielleicht war das in beiden Fällen gar nicht mal so gänzlich falsch. Aber im Vorgriff auf die abzusehenden nächsten Überraschungen könnten wir uns fragen, wie man Entscheidungen etwas früher treffen könnte; und damit vielleicht der nächsten »Gesundung« des Staates – seiner Regression auf militärische Organisationsformen – genauso vorbeugen wie dem postwendend folgenden Erschrecken darüber.
JAN SÖFFNER ist Professor für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin Universität (Friedrichshafen).
Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.