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Aus taz FUTURZWEI

Heike-Melba Fendel über Hilfsbereitschaft Helfen ist normal

Anderen zu helfen ist eine zentrale Notwendigkeit der Gegenwart. Doch wir haben das Helfen verlernt, verkitscht, überhöht, denunziert und überhaupt lieber eine Meinung. Was tun?

»Erster Akt Anteilnahme, zweiter Abstumpfung, dritter Aggression – Ende der Hilfsbereitschaft.« Foto: Andreas Pein/Laif

Von HEIKE-MELBA FENDEL

Aschermittwoch war dieses Jahr am 2. März. Der Beginn der Fastenzeit fiel zusammen mit der Ankunft der ersten ukrainischen Geflüchteten am Berliner Hauptbahnhof. Hunderte Menschen warteten hinter einer improvisierten Absperrung auf die Ankömmlinge. Dutzende Helferinnen mit gelben Westen bauten Essenstationen auf, andere informierten die Wartenden über immer weitere Verspätungen der Züge. Es hatte geheißen, man solle Anzahl der Personen und Dauer der Unterbringung auf Pappschildern vermerken.

Außer der Bereitschaft, Wohnraum zur Verfügung zu stellen, gab es auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. Sie waren alt und jung, einzeln oder im Familien- und Freundesverbund gekommen, schienen wohlhabend zu sein oder eben ganz und gar nicht. Und fast alle waren bereit, zu warten. Stunde um Stunde. Als um ein Uhr früh die ersten erschöpften Reisenden mit schwerem Gepäck die Zwischenetage betraten, hielten die Gastgeberinnen ihre Schilder in die Höhe. Doch die Ansagen der Gelbwesten – Drei Männer, zwei Tage! Vier Frauen, drei Kinder, zwei Katzen, drei Monate! – passten selten zu den Vorschlägen auf den Schildern und wahrscheinlich nicht einmal zu den Bedürfnissen der Hals über Kopf Geflüchteten. Die hatten eben irgendetwas gesagt, so wie die Hilfsbereiten irgendetwas mit Edding aufgemalt hatten. Und so standen sie voreinander und improvisierten, bis alle Ankommenden auf Wartende verteilt und die Zeitangaben haltlos geworden waren. Ein junger Mann hatte ein wenig abseitsgestanden. Seine Pappe war sehr klein. Seine Wohnung, so stand zu vermuten, war es auch. Er bot nur Raum für eine Person. Die Bitte um Angabe der Dauer hatte er so beantwortet: »Until we find a Solution.«

Jener 2. März scheint auch deswegen so lange her zu sein, weil der Impuls dieser paar Hundert Menschen damals noch der aller Menschen gewesen zu sein schien: Helfen, wo man helfen kann – weil man helfen will, weil man helfen muss. So wie wir im Alltag etwas aufheben, das jemandem hingefallen ist. Wie wir jemandem aufhelfen, die hingefallen ist. Wie wir Taschen für jene tragen, denen sie zu schwer geworden sind. Einfach machen. Und den Dank? – Da nicht für.

Genauso selbstverständlich ging es die folgenden Wochen im Norden Berlins weiter. In Reinickendorf, wo die einstige Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik – aka »Bonnies Ranch« – Heimstatt des Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) geworden war, strandeten Tausende weitere Geflüchtete. Und Hunderte freiwillige Helferinnen folgten ihnen auf dem Fuße. Das oft schadhafte und immer unhandliche Gepäck wurde auf rasch organisierten Lastenrädern über das weitläufige Gelände gefahren. Kleiderspenden wurden angenommen und ausgegeben, ein Essensdienst ebenso aufgebaut wie eine mobile medizinische Versorgung, Kinderspielecken und Übersetzung ins Russische, Ukrainische – und in Gebärdensprache. Die disparate Schar Helfender formte eine improvisierte Allianz mit THW, Polizei und dem Team des LAF – Chaos jederzeit inbegriffen. Informationen wechselten minütlich, wurden fehlerhaft übermittelt oder fehlten ganz. Im 24-stündigen Schichtdienst gaben alle ihr Bestes, ob sie nun dafür bezahlt wurden oder nicht.

Erster Akt Anteilnahme, zweiter Abstumpfung, dritter Aggression

Manche gaben alles, andere gaben sich Mühe. In pastellenes Kaschmir gewandete Ehepaare fuhren im SUV auf der Suche nach Müttern mit netten Kindern das Gelände ab, während die Emissäre Kreuzberger WGs nach LBGTQI-Flüchtlingen Ausschau hielten. In der Dietrich-Bonhoeffer-Kirche, wo bis zu 200 Geflüchtete auf Feldbetten kampierten, schmierten grauhaarige Gemeindemitglieder äußerst sorgsam Linsenaufstrich auf Brote und im temporären Wohnheim, aus dem die vorigen Langzeitbewohner – Geflüchtete aus anderen Regionen der Welt – hinauskomplimentiert worden waren, machten sich, oftmals frisch angeheuerte, Sicherheitsdienstler wichtig. Und doch professionalisierte sich dies erratische Miteinander täglich weiter. So entstand – bei allem Chaos, aller Willkür und aller Überforderung – im Reinickendorfer Gewusel ein Mikrokosmos handfester Menschlichkeit. Zupacken, wo und wie man eben kann, war das Gebot jener Wochen auf dem Gelände mit seinen Parkanlagen, alten Backsteingebäuden und Containersiedlungen.

Hilfsbereitschaft und Pragmatismus strahlten von Reinickendorf aus auf Berlin und das Umland. Helfer der Helferinnen spendeten Geld, Dinge und Expertise, gaben Wohnraum frei und leisteten Beistand. Alles war richtig, und nichts war genug. Bis eintrat, was als unvermeidlich gilt, weil und so lange man es als unvermeidlich beschreit: Erste Hilfe wich second thoughts. Die Vollzeit-Helfenden konnten nicht mehr, neue wollten erst gar nicht und erste Gastgeberinnen begannen zu fragen, wie lange genau die ukrainischen Gäste denn jetzt noch bei ihnen bleiben würden. Am Flughafen Tegel wurde ein, für freiwillige Helfer weitgehend abgeschottetes, Drehkreuz für Geflüchtete aufgebaut, »Bonnis Ranch« als Ankunftszentrum abgewickelt und das Primat der Meinung begann sich landauf, landab vor das der Tat zu schieben.

Waffenlieferungen ja/nein und wenn ja, welche. Ukraine besuchen ja/nein und wenn ja, wer am besten. Gas aus sogenannten Schurkenstaaten importieren ja/nein und wenn nicht, wie und woher dann. Das Lob für die Helfenden verklang, weiterzumachen wirkte mit einem Mal sehr »last season«. Menschen zogen sich in die gelernten Schutzräume zurück, in denen sie sich seit jeher von Verantwortung abschotten: Meinung, Gefühl und eigene Sorgen. Die Meinung, der zufolge »die Politik« zuständig sei (und versagt), das Gefühl, demzufolge alles ganz schrecklich belastend für sich und die seinen ist und die Sorgen um kalte Wohnungen, klamme Kassen und fehlende Dienstleister.

Nichts daran ist normal, alles jedoch gewissenlos. Die Sätze zum Plausibilisieren eines Endes der Hilfsbereitschaft von »Man kann nicht allen helfen« über »Mitgefühl nutzt sich nun einmal ab« bis »Man muss die Ängste der Menschen ernst nehmen« sind so ausgeleiert wie grundfalsch. »Man« und »die Menschen« wird, medial herumgetrötet, synonym für die Sprechenden und ihresgleichen gesetzt. Diese Erzählung folgt einer schiefen Dramaturgie. Erster Akt Anteilnahme, zweiter Abstumpfung, dritter Aggression. Um Aggression gegen »die Politik« oder »die Medien« zu vermeiden, wird, im Dienste einer vollkommen fiktiven Ausgewogenheit, Abstumpfung, wenn nicht erzeugt, so doch bestärkt. Und darüber Anteilnahme, wenn nicht verunglimpft, so doch ins Abseits oder Gestern verschoben.

Die Zeit für Egoismus ist abgelaufen

Wo nichts gut ist, kann man nichts gut sein lassen. Es ist falsch, Menschen bei ihren niederen Instinkten – Bequemlichkeit, Egoismus und Gewohnheit – zu packen, anstatt bei ihren besten Impulsen – Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Tatkraft. Diese Impulse gilt es zu verstetigen, ohne Kitsch und ohne Kosten-Nutzen-Rechnung. Helfen ist ein Gebot und Hilfsbereitschaft keine Eigenschaft, sondern eine Grundlage. Helfen will gelernt und es will implementiert sein. In einen Alltag, eine Welt, die Helfende immer noch mit falscher Bewunderung (»Ich könnte das nicht«) oder falschem Beifall (»Du bist so toll«) auf Abstand zum eigenen Handeln hält. Zu lange war Helfen Ornament einer Leistungsgesellschaft, delegiert an Menschen (gerne Frauen), die über genug Zeit und Leidensfähigkeit verfügen, sich für andere kostengünstig – oder besser noch kostenneutral – aufzuopfern.

Helfen ist mehr als alles andere, jedoch vor allem eines: normal. Dass wir es verlernt haben, mindestens verlernt haben, es maßvoll und dauerhaft zu betreiben, ist nicht das Problem des Helfens, sondern jener, die es verkitschen, überhöhen oder denunzieren. Derart auf sich zurückgeworfen, richten sich nicht wenige Helfende wahlweise in Selbstergriffenheit, Selbstüberforderung oder Selbstgerechtigkeit ein. Helfen ist kein Hobby und muss nicht im Amateurstatus verharren. Vom Impuls zur Fähigkeit wie Fertigkeit zu gelangen, ist – wie im Sport oder in der Kunst – zwar kein leichter, aber eben doch ein gangbarer Weg. Wäre da nicht der äußere Schweinehund, also die kollektive Weigerung der Mehrheitsgesellschaft, das Erlangen der Fertigkeit des Helfens mit Respekt, Zuspruch oder gar Unterstützung zu begleiten. Mindestens aber mit Klappe halten, wenn sonst nichts geht.

Die Autorin

HEIKE-MELBA FENDEL ist Autorin und Geschäftsführerin der Agentur Barbarella Entertainment.

Es ist nämlich genau nicht normal, ausreichend vorhandenen Wohnraum unbewohnt zu lassen, weil man mal wieder oder überhaupt für sich sein will. Oder seine Expertise allein an irgendwelche Klientinnen, Follower oder Chefs gewinnbringend zu verschwenden. Oder sich jetzt endlich mal wieder seinen Mental-Health-Issues zu widmen. Es gibt uns und unsere Bedürfnisse, ja. Aber wir hatten verdammt viel Zeit dafür, uns mit wenig anderem zu beschäftigen. Diese Zeit ist abgelaufen.

Am 2. März begann also die Fastenzeit. Für nicht wenige – Glaube hin oder her – begannen damit sieben Wochen freiwilligen Verzichts. Die Fastenzeit hat ihr offizielles Ende, die Hilfsbereitschaft ein inoffizielles Abflauen erlebt. Der Krieg in der Ukraine und zahllose andere Brandherde lodern weiter. »Bonnis Ranch« ist überall. Viele Helferinnen sind es nicht mehr. Wir brauchen sie. Wir brauchen uns als Helfende. Ohne Ausflüchte, ohne Getöse. Wie die Schauspielerin und Schriftstellerin Adriana Altaras, die seit Monaten in einem Van lebt, weil sie ihre schöne Charlottenburger Wohnung Geflüchteten zur Verfügung gestellt hat. Und für diese Hilfestellung nicht mehr als ein Achselzucken übrighat und die Worte: »Das ist jetzt so. Und das bleibt auch so.«

Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.