piwik no script img

taz FUTURZWEI

Harald Welzer in der taz FUTURZWEI Gemeinsinn ist geil

Der radikal einsame Mensch unserer Zeit ist nicht nur für die haltlose Wachstumswirtschaft ein idealer Kunde, sondern auch für den Faschismus. Das Einzige, was beidem Widerstand entgegensetzt, ist Gemeinsinn.

Der Phänotyp des Antisozialen ist der an Gemeinsinn und Gemeinwohl völlig uninteressierte Maximierer individuellen Nutzens Foto: Illustration: Alina Günter

taz FUTURZWEI | Es gibt so unbestimmte atmosphärische Veränderungen in der Gesellschaft, die einem erst gar nicht oder nur als kleines Störgefühl auffallen, sich aber über kurz oder lang als Verschiebung, sagen wir: der kulturellen Tonalität in den Vordergrund drängen. Vielleicht fing alles mit Harald Schmidt auf der einen und „Geiz ist geil“ auf der anderen Ebene an, und seither behelligen uns zum Beispiel diese ganz und gar unsympathischen Typen von CHECK24, die in Habitus, Aussehen, Stimme und Aufdringlichkeit das Produkt selbst, das aus Knickrigkeit besteht, verkörpern.

MIT DEN GROSSEN LÖSUNGEN RETTET MAN DIE WELT NICHT, SONDERN SCHAFFT DAUERKOMMENTIEREND LEGITIMATIONEN, NICHT MIT GEMEINSAMEM HANDELN IM KLEINEN GEGEN DAS FALSCHE ANZUGEHEN.

Werbetechnisch nachvollziehbar, aber würde man diese präpotenten Leute gern im Großraumwaggon der Deutschen Bahn haben? Oder diese Frau, die werblich in einer ganz merkwürdig nölig-dringlichen Stimme „Lidl lohnt sich“ sagt? Man kann auch, wenn man gar nichts Besseres zu tun hat, Olympia gucken und sich anschauen, wie man sich heute freut – mit Fäusten, superaggressiv und komplett exaltiert. Dazu kommen phänomenal antisoziale Heroen der Kulturepoche wie die libertären Fantastilliardäre Bezos, Musk oder Thiel oder in Provinzfassung diese „Höhle der Löwen“-Menschen. Die Strombergs dieser Welt, Carsten Linnemann, Jan Böhmermann, Sophie Passmann, Carolin Kebekus – sämtlich Leute, die ihren matten Glanz der Schamlosigkeit verdanken, sich auf Kosten anderer zu profilieren.

Die kulturelle Tonalität des Antisozialen.

Die Phänotypen des Antisozialen entspringen dem Geschäftsmodell des digitalen Kapitalismus

Der Filmregisseur Werner Herzog hat in einer frühen Talkshow Ralf Moeller, seines Zeichens Mister Universum des Jahres 1985, darüber aufgeklärt, dass dessen Körper ohne die Superman- und Marvel-Comics der 1950er- und 1960er-Jahre gar nicht existieren würde – Moeller also selbst ein Medienprodukt sei. Das hat Moeller nicht verstanden, schließlich hatte er hart dafür gepumpt, Mister Universum zu werden, aber im selben Sinn scheinen mir die Akteure des Antisozialen ebenfalls Medienprodukte zu sein. Nur sind die nicht Comics und Fantasy entsprungen, sondern der Dauererregungs-, Hass- und Mobbing-Kultur der Direktmedien und gewissermaßen von den Displays in die Studios, in die Digitalwirtschaft und in die Parlamente geschlüpft, um dort die Welt schlechter zu machen, als sie ohne sie sein könnte.

Die Phänotypen des Antisozialen entspringen dem Geschäftsmodell des digitalen Kapitalismus.

Der hat es geschafft, das Menschenbild des Neoliberalismus radikal zu verallgemeinern, sodass der an Gemeinwohl und Gemeinsinn völlig desinteressierte Maximierer des individuellen Nutzens zu einem Sozialtypus geworden ist, der ideal den Interessen der Anbieter entgegenkommt. Denn um jedes Bedürfnis als eigenes zu interpretieren, dass ihm die Anbieter von Services, Klamotten, Gadgets, Erlebnissen und Dingen überhaupt andrehen, muss ein Mensch ja zunächst mal von zwei Merkmalen befreit sein: erstens davon, ein soziales Umfeld zu haben, in dem er nicht allein ist. Und zweitens davon, autonom urteilsfähig zu sein. Erst wenn beides der Fall ist, wird man jenes leere Bedürfnisbehältnis sein, in das alles hineingegossen werden kann, was eine haltlose Wachstumswirtschaft sich als jeweils Nächstes ausdenkt. Anders gesagt: Man muss einsam sein, um in der Hyperkonsumkultur perfekt zu funktionieren und am Ende einen Kühlschrank haben zu wollen, der seinen Inhalt überwacht und selbst bestellt, was seinem Urteil nach fehlt.

Und jetzt kommt es aber: Dieses radikal einsame Individuum, das seine Urteilsfähigkeit an eine Smartwatch oder an einen Kühlschrank abgegeben hat, ist nicht nur für den Handel spitze, sondern auch für den Faschismus. Denn der braucht bekanntlich das verlassene menschliche Atom der Massengesellschaft, das sich so existenziell gern an etwas binden möchte. Vor dem Vergemeinschaftungsangebot des rechtsextremen oder faschistischen Populismus steht zunächst einmal die Herstellung von Einsamkeit, und deshalb funktioniert der Aufstieg des Populismus so reibungslos. Wir sehen gewissermaßen eine Wahlverwandtschaft zwischen den Entmündigungsbedürfnissen einer haltlosen Wachstumswirtschaft und den emotionalen Angeboten populistischer Politik.

Das Einzige, was beidem Widerstand entgegensetzt, ist Gemeinsinn.

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°31: GEMEINSINN

Gemeinsinn gilt manchen als gut gemeint, salonlinks oder nazimissbraucht. Kann und wie kann Gemeinsinn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen?

Mit Aleida Assmann, Armin Nassehi, Barbara Bleisch, Florian Schroeder, Jagoda Marinić, Wolf Lotter, Heike-Melba Fendel, Florence Gaub, Paulina Unfried, Tim Wiegelmann und Harald Welzer.

Erscheint am 10. Dezember 2024.

Jetzt im taz Shop bestellen

Der Mensch ist ein soziales Wesen

Gemeinsinn ist das, was über die eigene kleine Existenz, den eigenen Horizont, die eigenen Möglichkeiten hinausreicht und darauf basiert, dass man als soziales Wesen Teil vieler gegebener und möglicher Beziehungen und Bündnisse mit anderen Menschen ist.

Anthropologisch betrachtet ist das nichts, was man herstellen oder gar erfinden müsste: Denn die menschliche Lebensform ist schon deshalb eine durch und durch soziale, weil jedes Neugeborene auf das Zusammensein mit anderen angewiesen ist, um überleben und sich entwickeln zu können. Menschen gibt es nicht im Singular; sie kommen im Unterschied zu anderen Säugetieren besonders auch hinsichtlich ihrer Hirnentwicklung extrem unfertig auf die Welt. Ihr Gehirn entwickelt sich sowohl anatomisch als auch in seiner Verschaltungsarchitektur spezifisch ja nach der Art, wie das Zusammensein mit anderen Menschen gestaltet ist. Deshalb sind Menschen Natur- und Kulturwesen zugleich. Biologisch tritt das Neugeborene des Jahres 2024 mit exakt demselben Gehirn an wie seine Vorfahrin vor 200.000 Jahren; aber was dieses Gehirn kann, inkorporiert die Fähigkeiten, Techniken, Wissensbestände (und Defizite und Beschränkungen) der Gegenwart.

Der asoziale oder antisoziale Sozialtypus, der gegenwärtig Konjunktur hat, ist eine jener zivilisatorischen Anomalien, die historisch von Zeit zu Zeit hervorgebracht werden – etwa von kriegerischen Kulturen, von sklavenhalterischen, von totalitären oder eben auch von Hyperkonsumkulturen. Das ist auf den ersten Blick schlecht, enthält aber auch die gute Nachricht, dass man Gemeinsinn – also die Beziehungs- und Resonanzfähigkeit – nicht antrainieren muss. Man muss nur das Trainingsprogramm bekämpfen, das ihn den Menschen abzutrainieren versucht. Die nach wie vor hohen Zahlen des ehrenamtlichen Engagements, die Spendenbereitschaft, die unmittelbare Hilfsbereitschaft, wenn jemand offensichtlich hilflos ist, solidarisches Verhalten oder auch Demonstrationen für die Demokratie und anderes mehr zeigen, übrigens ebenso wie weite Teile von Literatur, Theater, Oper, Musik und bildende Kunst, dass Beziehung und Resonanz die zentrale Bedürfnismatrix bilden, um deren Befriedigung es den allermeisten Menschen geht.

Es ist Zeit, Gemeinsinn wieder stark zu machen

Das gilt. Weshalb es politisch an der Zeit ist, so scheinbar altmodische Kategorien wie Gemeinsinn und Gemeinwohl wieder stark zu machen – gegen alle interessierten Verlockungen unterschiedlicher Formen und Spielarten, die die Menschen zu vereinzeln trachten. Was sich an den entgegengesetzten Rändern des politischen Gemeinwesens extrem antisozial ausprägt – die faschistischen Bestrebungen der Herstellung von Gemeinschaft durch Ausgrenzung ebenso wie die identitätspolitischen Bestrebungen der Herstellung von Gemeinschaft durch Ausgrenzung – hat den systemischen Nachteil, nicht belastbar sein zu müssen: spalten, abwerten, diffamieren, hetzen, denunzieren sind sämtlich verbale Handlungen, die sich mit materiellen Gegebenheiten nicht auseinandersetzen und demgemäß keine Ergebnisse liefern müssen. Das macht sie modisch, aber nicht nachhaltig. Der Scheiß verschwindet schon dann, wenn niemand an ihn glaubt.

Das, was aktiv im Raum zwischen den Rändern passiert, eben in der Kommunalpolitik, im Ehrenamt, in den Institutionen der Daseinsvorsorge, in der Nachbarschaft und so weiter muss sich immer materiell beweisen, also belastbar sein. Das erzeugt Wirklichkeit – mit dem Motiv des Gemeinsinns und dem Ergebnis des Gemeinwohls. Das ist subversiv, weshalb wir es zum Schwerpunkt dieses Heftes machen.

Eine Politik der Zukunftsfähigkeit erweist sich in der Konkretion des gemeinsamen Handelns, das zu – vielleicht auch nur kleinen – Verbesserungen des Lebens führt. Aber genau in dieser Gestalt ist sie erfahrbar und vital, bietet Teilhabe und Erfahrung. Dass man damit, wie jetzt sofort alle Durchblicker sagen, die Welt nicht rettet, ist kein Einwand. Denn mit den großen Lösungen, den plakativen Postulaten, den eindeutigen Forderungen rettet man sie nicht nur auch nicht, sondern man schafft Legitimationen, nicht gegen das Falsche anzugehen, sondern es nur dauerkommentierend geschehen zu lassen.

Und ganz ehrlich: Wir können das alles gar nicht mehr hören. Gemeinsinn nervt nicht, und Gemeinwohl ist geil.

■ Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI.

Dieser Artikel ist im Dezember 2024 in unserem Magazin taz FUTURZWEI erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe taz FUTURZWEI N°31 mit dem Titelthema „Gemeinsinn“ gibt es ab dem 10. Dezember im taz Shop.