„BILD“ UND „FAZ“ BERICHTEN: ALBERT SPEER WUSSTE DOCH VON AUSCHWITZ : Doppelte Buchführung
Albert Speer war, wie seit mindestens einem Vierteljahrhundert bekannt ist, ein umtriebiger Organisator der NS-Verbrechen. Er war für die Auspressung von einer halben Million Zwangsarbeitern direkt verantwortlich, profitierte privat von der Arisierung jüdischen Eigentums und kooperierte mit der SS bei der Vernichtung der Juden. Kaum ein anderer Nazifunktionär war an so mannigfachen NS-Verbrechen beteiligt wie Speer, der sich 1944 als Nachfolger Hitlers sah.
Das deutsche Bildungsbürgertum ventilierte indes jahrzehntelange mit inständigem Ernst die Frage, ob Speer, der Architekt mit den guten Manieren, möglicherweise doch etwas vom Holocaust gewusst haben könnte. Schon in dieser Frage verwandelte sich der rationale Planer von Kriegsverbrechen in die Figur eines protestantischen Moraldramas: Er erschien als unpolitischer Großbürger, der der bösen Faszination Hitlers auf den Leim ging und so schuldlos schuldig wurde. So wollten viele deutsche Bildungsbürger Speer sehen – denn so wollten sie sich selbst sehen.
Nun ist ein Brief aufgetaucht, in dem Speer zugibt, was er lange beharrlich geleugnet hatte – nämlich dass er 1943 bei der berüchtigten Posener Rede anwesend war, in der Himmler vor NS-Führern offen den Judenmord beschrieb. Diese „Sensations-Enthüllung“ (Bild) beantwortet noch mal die falsche Frage – nämlich, ob Speer von Auschwitz wusste. Speer hat persönlich Baumaterial für Auschwitz bewilligt. Ebenso gut könnte man man fragen, ob Ulbricht etwas vom Mauerbau wusste.
Faszinierend an diesem Fall ist zweierlei: wie trickreich Speer dem westdeutschen Bürgertum seine Lügen auftischte und wie begierig dieses seine Lügen aufsog. Speer war stets vor allem das Bedürfnis nach ihm – nach einer Figur, in der sich die deutschen Eliten als Verführte spiegeln konnten.
Deutschland hat die NS-Vergangenheit bewältigt – sehr spät und mit vielen Umwegen. Aber, verglichen etwa mit Japan, nachhaltig. Der Fall Speer zeigt allerdings, dass es dabei eine doppelte Buchführung gab. Wo es konkret wurde, wollte man es nie so genau wissen. STEFAN REINECKE