BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Vom Nahen und nahen Osten
Der Alltag in der DDR hat mich eingeholt. Durch die Fotos eines Palästinensers aus Leipzig
Alltag ist ein schönes Wort, selbst wenn er es nicht immer ist. Jetzt hat mich ein Alltag eingeholt, den ich längst hinter mir gelassen habe: „Alltag in der DDR“. So heißt ein Fotoband, der schon vor einiger Zeit erschienen und mir durch Zufall in die Hände gefallen ist. Ich hatte einen Artikel über die Eröffnung einer Fotoausstellung in Berlin über palästinensische Flüchtlingslager gelesen. Der Name des Fotografen kam mir verdammt bekannt vor. Mahmoud Dabdoub. Mahmoud Dabdoub, Mahmoud Dabdoub, ging es mir durch den Kopf. Woher kenne ich den bloß? Natürlich! Mahmoud Dabdoub war der erste Palästinenser, den ich in meinem noch jungen Leben in der DDR kennengelernt hatte.
Über ein Solidaritätsprogramm war er Anfang der 80er-Jahre zum Studium nach Leipzig gekommen. In der Mensa oder einem Studentenclub müssen wir uns das erste Mal begegnet sein. Alles, was er erzählte, kam mir damals verdammt weit weg und fremd vor. Bei Baalbek, dem Flüchtlingslager im Libanon, in dem er geboren wurde und aufwuchs, musste ich immer an den Ostseeurlaubsort Ahlbeck denken. Und der staatenlose Status palästinensischer Flüchtlinge klang für mich nicht schlimm, sondern verheißungsvoll.
Dieser Mahmoud Dabdoub, so fand ich nun heraus, hat also nicht nur Aufnahmen von seinem Nahen Osten gemacht, sondern auch von meinem nahen Osten. Umgehend bestellte ich beim Verlag ein Exemplar von „Alltag in der DDR“.
Es sind Bilder aus den Achtzigerjahren, aufgenommen in Schwarz-Weiß. Der Alltag war eben doch oft grau. Doch die Bilder sind es keineswegs. Trotz leerer Milchkannen und leerer Garderobenhaken blickt man nicht in leere Gesichter. Die Bauarbeiter, Schornsteinfeger, schick gemachten Blondinen, Bockwurst essenden Werktätigen oder spielenden Kinder scheinen in sich zu ruhen wie in einer unendlichen Langsamkeit des Seins. Der Untergang ihres Landes ist nah, aber nicht zu ahnen. Mahmoud Dabdoub hat sie in ihrem Alltag wie in Zeitlupe eingefangen.
Beim Durchblättern des Fotobandes beschleunigte sich mein Herzschlag. Würde ich mich auf einem der Bilder wiederfinden? An Nacktbilder würde ich mich erinnern, beruhigte ich mich. Aber vielleicht beim ausgelassenen Tanzen im Studentenclub oder beim Anstehen in irgendeiner Schlange? Leider sind es andere, die heiß begehrte Bastmatten auf dem Rücken nach Hause tragen oder ratlos vor Regalen mit Rotkohl und Weißkohl verweilen.
Dafür habe ich Fotos, auf denen der Fotograf zu sehen ist, ha! Schauplatz ist nicht die DDR, sondern Bulgarien. Im Sommer 1983 bin ich bin mit einer Freundin durch Ungarn, Rumänien und Bulgarien getrampt. In der Nähe von Melnik, ziemlich nah zur griechischen Grenze, trafen wir Mahmoud. Ich habe keine Ahnung mehr, wie er dahin gekommen ist. Plötzlich stand er an der Straße, als wäre der ganze Ostblock ein einziges Dorf. Ich weiß nur noch, dass wir es kaum fassen konnten und ich ihn beneidete, weil er nach Griechenland durfte und wir nicht. In meinem Fotoalbum habe ich zu einem Melnikfoto notiert: „südlicher geht’s leider nicht“.
Bevor sich unsere Wege trennten, haben wir uns gegenseitig fotografiert. Zu sehen ist Mahmoud, damals 25 Jahre alt, ein gut aussehender Mann mit dunklen Locken, einem akkurat rasierten Bart am Kinn und cooler Jeansjacke. Und da bin ich, zarte 19 Jahre, die langen Haare offen und in der Mitte gescheitelt. Zu einer ziemlich knapp abgeschnittenen Jeans trage ich ein für damalige Zeiten typisches Kleidungsstück: eine Baumwollwindel, aus der mit wenigen Nähten eine Bluse wurde.
Die Fotos sind natürlich auch schwarz-weiß. Aber ich kann mich erinnern, dass ich die Windel grün gefärbt hatte, grün wie die Hoffnung.
Unbeschwert lache ich im Sommerwind und lege meinen linken Arm um Mahmouds Schulter. Sein rechter Arm umfasst meine Taille, sein Kopf ist an meine pausbäckige Wange geschmiegt. Es ist ein schönes Bild, das ich längst vergessen hatte. Ein schönes Bild aus einem nicht so schönen Alltag.
Fragen zum Alltag? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN