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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Zeit der Herbstzeitlosen

Wie mich mein erstes, sozialistenrotes Westhandtuch jetzt in die Klapsmühle gebracht hat

Oft sind es die kleinen Sachen, die das Leben erträglich machen und einem Halt geben. Zum Beispiel das riesige rote Handtuch, das ich in meinem Badezimmer habe. Ich bekam es 1988 geschenkt von einem Mann, der eine Zeit lang ohne meine Hilfe ganz schön aufgeschmissen gewesen wäre. Vicente, ein Ingenieur aus Madrid. Er hat anderthalb Jahre im Chemiewerk in Leuna gearbeitet und ich war seine Baustellendolmetscherin.

Als Vicente nach Spanien zurückging, ließ er unter anderem das rote Handtuch zurück. Vielleicht dachte er, ich sei noch nicht trocken hinter den Ohren. Egal. Für mich war das flauschige Teil der Inbegriff des kuscheligen, reichen Westens. Weil ich wegen einer fehlenden Dusche nicht jeden Tag duschen konnte, nutzte es sich recht wenig ab. Das hat sich in den Jahren seit dem Mauerfall natürlich geändert. Flauschig ist es schon lange nicht mehr. Die Ränder sind ausgefranst und immer öfter hängen mir rote Fäden an Armen, Beinen, Po oder Brust, wenn ich das Bad nach dem Duschen verlasse.

Aber zum Abtrocknen reicht es allemal. Außerdem bringe ich es nicht fertig, es wegzuwerfen. Schließlich war es das erste Westhandtuch meines Lebens. Jetzt bin ich froh, dass ich es noch habe. Denn Vicente und seine Frau Chari sind zu Besuch in Berlin. Ich hatte ihnen am Telefon gesagt, dass sie keine Handtücher mitbringen brauchen. Als ich ihnen das rote Teil aufs Bett legte, trauten sie ihren Augen nicht. Sie erkannten es sofort wieder und eine große Rührung überkam sie. Vicente erzählte, dass ihm die Farbe damals passend für den Sozialismus erschien. Er war erstaunt, wie blass das Rot geworden ist. Doch die Erinnerung des spanischen Paares an ihre Zeit in der DDR ist nicht verblasst. Also ging ich mit ihnen am Sonntag in den Treptower Park. Was den Westberlinern der Tiergarten ist, ist den Ostberlinern der Treptower Park. Dort gibt es direkt an der Spree einen riesigen Biergarten und das „Haus Zenner“, eins der ältesten Traditionslokale der Stadt. Sonntags nachmittags ist an diesem Ort die Zeit auf liebenswerte Art stehen geblieben.

Unter freiem Himmel spielen Diskjockeys Lieder von Herz, Schmerz, Liebe und Triebe, aber auch von Bumsfallera und „Heute hau’n wir auf die Pauke“. Agile weißhaarige Damen legen unter den Blicken hunderter Biertrinker und Bratwurstesser flotte Nummern aufs Parkett. In ihrem Schatten bewegen sich charmante Verrückte, die die Zeit nicht unbeschadet überstanden haben und ihren Ausdruck nur noch im Tanz finden.

Vicente und seine Frau betrachteten sprachlos die Menschen, ihre Frisuren, ihre Sonntagskleidung, ihre beigefarbenen bequemen Schuhe. „Das ist ja wie in der DDR“, flüsterte Vicente ungläubig und zückte seine Kamera. Doch er traute sich nicht, diese untergegangen geglaubte Welt zu fotografieren. „Dann tanzen wir!“, rief ich und zog ihn auf die Tanzfläche. Kaum hatten wir uns unter die anderen gemischt, befiel mich ein seltsames Gefühl. Es war so, als ob es die letzten 15 Jahre nicht gegeben hätte, keinen Herbst mit Mauerfall. Ich kam mir vor wie eine Herbstzeitlose, diese Pflanzen, die außerhalb der Blütezeit anderer Pflanzen blühen.

Ich war etwas aufgekratzt, als wir zu unserem Tisch zurückkamen. Zum Glück hatte ich vorher auf einem Flohmarkt, untergebracht in einer ehemaligen Autowerkstatt, in der früher Volvos von DDR-Bonzen repariert wurden, etwas erworben, was mich beruhigte.

Es ist eine bemerkenswerte Erfindung aus Holz. In ein Quadrat sind zwei Kerben geschnitten, durch die zwei Stückchen Holz geschoben werden, die im rechten Winkel zueinander an einem Hebel festgeschraubt sind. Dreht man an dem Hebel, laufen sie geschmeidig aneinander vorbei. Das eine Teil schiebt sich von rechts nach links, das andere lässt ihm den Vortritt und folgt sogleich von oben nach unten. Es funktioniert wie geschmiert, auch entgegen dem Uhrzeigersinn. Kein Verhaken, kein Knirschen im Getriebe, Harmonie pur. Nach ein paar Dutzend Drehungen war ich wieder im Hier und Jetzt. Das geniale Teil trägt die Aufschrift „Klapsmühle“.

Fragen zur Klapsmühle? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch GERÜCHTE