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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Die Sitzbrille des Lebens

Nach Umwegen über Henry Miller, Anaïs Nin und T. C. Boyle finde ich mittlerweile zunehmend Gefallen an mir unbekannter oder damals verbotener Literatur aus der DDR

Es kann durchaus interessant sein, sich bei der eigenen Entwicklung zuzusehen. Wenn ich mir anschaue, was ich früher gelesen habe und was ich jetzt lese, dann reibe ich mir erstaunt die Augen.

Im jugendlichen Alter war mein Hauptkriterium, dass die Handlung möglichst weit weg vom real existierenden Sozialismus spielen musste. In „Bonjour tristesse“ reiste ich mit der 17-jährigen Cécile an die Côte d’Azur. In Henry Millers Geschichte „Das Lächeln am Fuße der Leiter“ beeindruckte mich der Clown August und seine Erkenntnis, niemand zu sein oder jemand oder jedermann zu sein, einen keineswegs daran hindern muss, man selbst zu sein. Mit „Wendekreis des Krebses“ begleitete ich Miller, wie er bei Suff, Sex und Meditation zu der Erkenntnis gelangt, dass die moderne Zivilisation ein selbstzerstörerischer Krebs ist. Über Miller landete ich bei den sehr freizügigen Tagebüchern und erotischen Romanen seiner Geliebten Anaïs Nin. Diese ließen die nie von mir geteilte Begeisterung meiner Landsleute für FKK als hochgradigen Ausdruck von Verklemmtheit erscheinen.

Durch meine literarischen Fernreisen konnte ich die Schullektüre leichter ertragen. „Wie der Stahl gehärtet wurde“ ist einer der wenigen Titel, die mir noch geläufig sind. Der Stoff war starker ideologischer Tobak: Der Protagonist kämpft in der Roten Armee, dem Komsomol und der Kommunistischen Partei, erblindet und ist ans Bett gefesselt. Aber natürlich verliert der sowjetische Held nie seinen Kampfesmut, sondern sucht den Weg zurück in Reih und Glied. Ich musste nur aufpassen, bei meinen parallelen Lektüren die Glieder nicht durcheinander zu bringen.

Nach dem Mauerfall konnte ich endlich ganz entspannt alles und jeden lesen. Wieder waren es amerikanische Autoren, die es mir antaten, allen voran T. C. Boyle. Nachdem ich so ziemlich alles von ihm gelesen hatte, ging ich sogar zu einer Lesung und ließ mir „Amerika“ und „Grün ist die Hoffnung“ signieren.

Und jetzt? Jetzt lese ich mit Begeisterung DDR-Autoren. Solche, die entweder verboten waren, die ich ignoriert oder gelesen und vergessen habe. Alfred Wellm ist einer von ihnen, Verfasser von Romanen, Kinder- und Jugendbüchern und Träger des DDR-Nationalpreises. Sein erster Roman für Erwachsene war „Pause für Wanzka“. Damit löste er Ende der 60er-Jahre eine heftige Diskussion aus. Er hatte es gewagt, die Rolle des Kollektivs bei der Erziehung anzuzweifeln. Nach vielen Jahren und einigen Zugeständnissen des Autors durfte das Buch dann doch erscheinen, war aber meistens vergriffen. Erschreckend und amüsant ist es, heute über die Angst damals zu lesen vor einem Lehrer, der alleine durch das Öffnen eines Klassenfensters, damit die Schüler der Stille zuhören, den Sozialismus zum Wanken bringen könnte.

In einem Ferienhaus in Italien stieß ich vor einigen Wochen auf den Schriftsteller Werner Steinberg. Steinberg war nach dem Verbot der KPD, der er angehörte, 1956 von Düsseldorf in die DDR übergesiedelt. Trotz gelegentlicher Kritik der sozialistischen Einheitspartei an seiner „pessimistischen“ Einstellung erreichten seine Bücher hohe Auflagen. Bis er es wagte, in dem Buch „Die Mördergrube“ über Befehlsempfänger und Duckmäuser im Dritten Reich und in der DDR zu schreiben. Die erste vollständige Ausgabe erschien 1986 im Westen. Mittlerweile empfehle ich jedem, der das Phänomen Staatssicherheit verstehen will, die Lektüre.

Jetzt lese ich den wohl berühmtesten ungedruckten Roman der DDR-Literatur. „Rummelplatz“, geschrieben von dem 1976 gestorbenen Werner Bräunig und vorgestellt auf der Leipziger Buchmesse. Den Protagonisten, der nach dem Krieg bei der Wismut AG schuftet, dem riesigen Uranbergbau-Betrieb im Erzgebirge, beschreibt er als einen Vertreter einer Generation, „die schon wirklich danebengegriffen hat auf der Sitzbrille des Lebens“. Wahrscheinlich muss man in der DDR gelebt haben, um solche Sätze schreiben zu können. Ganz sicher muss man in der DDR gelebt haben, um sie genial zu finden.

Fragen zur Lektüre? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann geht LAUFEN