: Die Triebe der Mittelschicht sind peinlich für alle
URAUFFÜHRUNG Beziehungskatastrophe als Chance: Yasmina Rezas „Bella Figura“ in der Regie von Ostermeier an der Schaubühne
Wirft man Hummer in kochendes Wasser, kratzen sie noch minutenlang an den Topfwänden. Menschen mag es manchmal nicht anders ergehen – das ist zwar keine besonders neue oder originelle Erkenntnis, und doch muss man zwangsläufig daran denken, wenn Thomas Ostermeier in seiner Inszenierung von „Bella Figura“ eine fünfköpfige Abendgesellschaft in einem elegant beleuchteten Restaurant versammelt. Ein Hummerbecken gehört zur gehobenen Ausstattung, eine Restaurant-Lounge mit Designer-Sessel und auch ein schicker, vollverglaster WC-Raum, der sich in eine Kampfzone verwandelt.
Auf diesem Restaurantklo drückt etwa Boris sein Gesicht an der Glasscheibe platt und zieht eine lange Schliere, während er die heruntergelassenen Unterhosen mit verrenkten Gliedmaßen zurechtrückt. Die Schwiegermutter einer Freundin der Familie hat ihn beim Seitensprung erwischt. Peinlich für alle, und hier kann man zuschauen, was es heißt, in bester Manier solche Situationen zu überspielen, Fassade zu wahren und zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
Yasmina Reza, Expertin für bürgerliche Milieustudien, übt sich in „Bella Figura“ wieder in den Überlebenskämpfen der gehobenen Mittelschicht. Will in deren Wünsche und Ängste schauen, Triebe und Verdrängtes zutage fördern. Ausgangspunkt ist ein Parkplatz vor einem Restaurant, in das der verheiratete Boris seine Geliebte Andrea ausführt. Die Stimmung kippt, weil der kulinarische Tipp von der Ehefrau stammt. Dann taucht auch noch eine Freundin der Ehefrau auf, mit ihrem Mann und der alterswirren Schwiegermutter, deren Geburtstag nun alle zusammen mit einer Flasche Schampus feiern. Eine heikle Situation, in der sich viele kleine Entgleisungen bis zur Erschöpfung aller summieren.
Ahnbare Verletzungen
„Bella Figura“ kommt um den Vergleich mit Rezas großem Erfolgsstück „Der Gott des Gemetzels“ – an etlichen deutschen Bühnen inszeniert, von Roman Polanski verfilmt – nicht herum. Schneidet aber um einiges schwächer ab. Die Gärungen des Wohlstandslebens greifen weniger tief, das Tempo ist gedrosselt. Für Thomas Ostermeier und das Ensemble der Schaubühne hat sie das Stück geschrieben. Im Gegenzug lässt sich die Schaubühne nicht lumpen und fährt glanzvoll auf: hochdesigntes Bühnenbild mit echtem Kleinwagen und erstklassige Besetzung.
Auf welche Wohlstandsbrüchigkeiten das Stück eigentlich abzielt, wird allerdings auch in Ostermeiers Inszenierung nicht restlos klar. Schauspielerisch ist sie meisterlich. Mark Waschke, Stefanie Eidt, Renato Schuch, Lore Stefanek und Nina Hoss entlocken dem Beziehungsgeflecht feine psychologische Untertöne. Man sieht, dass der Stoff ohne gute Schauspieler als Komödie verenden könnte. Vor allem Hoss legt ihre Figur der heimlichen Geliebten sehr sympathisch auf dem schmalen Grat zwischen Opfer und Täterin an, zwischen Fassadenwahrung und ahnbaren Verletzungen.
Das Ambiente kommt sehr französisch daher, man bestellt See-Igel und Gillardeau-Austern. Andrea zwängt ihre Füße in Designer-Pumps, die ein Fünftel ihres Gehalts kosten. Rezas Kontext bleibt zum Glück in den benachbarten Mittelstandsverhältnissen, verstärkt die Wirkung, dass die Existenzen am seidenen Faden hängen. Aufbruch ist trotz allen Wohlstands nicht möglich: „Vielleicht ist das die Chance deines Lebens, diese Katastrophe“, sagt Andrea zu Boris, der die Insolvenz seiner Baufirma fürchtet. Mehr als ein lahmes „Ach ja?“ fällt ihm nicht ein.
Ein richtiger Knüller ist die Inszenierung nicht, dazu wirkt sie zu gedämmt und lässt zu viele Leerstellen, was die Figuren eigentlich so lähmend in Bann hält. Und doch ringt Ostermeier dem Stoff ins Fleisch schneidende Momente ab. Schaut ins Herz von mit sich ringenden Wohlstandsindividuen, die von ihrem Als-ob nicht loskommen.
SIMONE KAEMPF
■ Wieder am 19. und 20. Mai, 4. bis 7. Juni, 9. bis 11. Juni, 13. bis 15. Juni