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Archiv-Artikel

Alles ist erleuchtet

Der Blick des Piloten auf eine Gewitterfront, die unausweichlichen Modalitäten des Seins: Alexander Schwarz’ Kurzgeschichten „Tag der Frösche“ tragen das Wasserzeichen des Lebens und gehören zum Besten, was es in Deutschland in diesem Genre gibt

von THOMAS FINDEISS

Ein blutüberströmter Mann torkelt auf eine Tankstelle in Spanien, übel zugerichtet von einem Vogel Strauß. Ein anderer Mann gerät in Wien an Zwillinge, die behaupten, an verschiedenen Orten geboren worden zu sein. Eine Clique Youngsters findet am Cap d’Antibes ein angespültes konturloses Wesen; kurz darauf ist es wieder verschwunden. Zwei Mädchen in einem trägen Sommer im exjugoslawischen Hinterland haben einen Heidenspaß daran, regelmäßig ihre nackten Hintern vor einem vorbeifahrenden Schienenbus zu entblößen – bis der eines Tages anhält. „Die wahre Freiheit des Menschen ist die Bewegungsfreiheit“, schreibt Alexander Schwarz in seinem Debüt. Recht hat er. Nach dem Geschrei um die fehlenden neuen deutschen Short Storys: Hier sind sie.

Alle Protagonisten dieser 16 Storys haben einen Punkt ihres Lebens erreicht, der einen Bewusstseinssprung erfordert. Es ist der Tag eins einer neuen Zeitrechnung. Ob sie das realisieren oder nicht, steht auf einem andern Blatt. Alle Geschichten enden mit einer Entscheidung im Off. Ihr Eigentliches greift über sie selbst hinaus, bleibt unbeschrieben: Das ist der Respekt vor den Dingen, auch das Grauen vor der „unausweichlichen Modalität des Seins“ (James Joyce).

Die Szenerien sind von gläserner Transparenz, aber alles passiert auf treibsandigem Untergrund. Der Blick des Piloten auf eine Gewitterfront (in „Blinder Passagier“), oder der auf eine gefangene Gottesanbeterin („Mantis Epusa“) – in einem unbemerkten Moment hat sich etwas Fremdes eingeschlichen und im toten Winkel verhakt und fängt von dort aus an zu agieren.

Schwarz verfolgt den Gang der Dinge lakonisch, gelassen, kühl – und trotzdem gelingt es ihm, die Situationen von innen heraus leuchten zu lassen. Am wörtlichsten in der Geschichte „Good Year“, an deren Ende unerwartet dreißig illuminierte kleine Zeppeline in den Nachthimmel über dem Meer aufsteigen, zwischen die Sterne, Licht an Licht – und auf allen steht das Gleiche. Allen Helden erscheint die Welt wie ein Handschuh, der umgedreht plötzlich sein grelles Futter zeigt. Sie bewegen sich an der Schattenlinie zwischen der so genannten Wirklichkeit und ihrem poetisch-symbolischen Pendant. Und jedesmal ist’s, als ob ein Vorhang weggezogen wird vor einem Spiegel. Die Blicke hinein und heraus sind identisch. Man möchte ihnen folgen, hinüber in eine Welt, in der Menschen leben, die zart und zerbrechlich und doch gleichzeitig so abgehärtet und professionell sind, dass man ihr Grundgefühl nur als euphorische Melancholie bezeichnen kann.

Nie hat man beim Lesen das Gefühl, als handele es sich um aufgearbeitete, dramatisierte Erinnerung. Sonic, schwebend, ohne sich an deutscher Ichbezogenheit zu stoßen, hetzt man diesem Erzähler nicht hinterher, sondern folgt ihm wie ein Schatten, in Echtzeit, manchmal froh, ihm nicht vorausgegangen zu sein, am Ende einer Erzählung. Unverkennbar ein amerikanischer Ton, das Filmische immer präsent: zu spüren dieses verstümmelte, zärtliche Flehen der Welt – not recordable – wie das Leben selbst, das eine Zeit lang in einen Menschen fährt und einen anderen links liegen lässt. Diese Storys tragen das Wasserzeichen des Lebens. Sie gehören zum Besten in dieser Sektion – mit Sicherheit in Deutschland. „There is a crack in everything, that’s where the light comes in.“ (Leonard Cohen)

Alexander Schwarz: „Tag der Frösche“. Short Storys. Berliner Taschenbuch Verlag, Januar 2003, 221 Seiten, 8,90 €